Heribert Prantl beleuchtet ein Thema, das Politik und Gesellschaft (nicht nur) in dieser Woche beschäftigt.
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30. Juni 2024
Prantls Blick
Die politische Wochenschau
Prof. Dr. Heribert Prantl
Kolumnist und Autor
SZ Mail
Guten Tag,
es geht um eine Erklärung für den Fall des Falles. Dieser Fall des Falles ist der Tod: „Nach meinem Tod“ steht im Organspendeausweis. In Gänze zitiert lautet der erste Satz im Organspendeausweis so: „Für den Fall, dass nach meinem Tod eine Spende von Organen/Geweben zur Transplantation in Frage kommt, erkläre ich hiermit …“. Immer dann, wenn ich die Plastikkarte mit dieser Erklärung in der Hand drehe, fällt mir ein Ausflug mit meinem Vater nach Altötting ein. Ich war ein kleiner Bub und es gab damals noch keinen Organspendeausweis; aber es gab den Tod – und mein Vater wollte ihn mir zeigen.

Es war nach einem vollgepackten Tag und ich hatte einen Mordshunger und eigentlich keine Lust mehr, in eine Kirche zu gehen. Aber der Vater hat mich gelockt: „Nach dem Tod“, so versprach er, würde er für mich im Wirtshaus das größte Schnitzel bestellen, das ich je gesehen habe. Um mir dieses Schnitzel zu verdienen, ging ich also mit ihm in die Stiftskirche St. Philipp und Jakob in Altötting, „wo der Tod wohnt“, wie er sagte. Er zeigte dann ein wenig scheu hinauf zur hohen Schrankuhr neben dem Nordportal, auf der eine Skulptur steht, ein Gerippe aus der Pestzeit, das von einem Uhrwerk in Bewegung gehalten wird - genannt „Der Tod von Eding“. Und der Papa erklärte mir die Vergänglichkeit am Exempel dieses Tods von Altötting: „Mit jedem Sensenschlag, den das Totengerippe macht“, so flüsterte der Vater, „stirbt ein Mensch“. Der Satz ging mir lange nach, nicht nur, als ich „nach dem Tod“ das versprochene Schnitzel verzehrte. So oft habe ich mir das von da an vorgestellt: Ein Sensenschlag – und zack, es sinkt ein Mensch weg; und noch ein Sensenschlag, da sinkt der nächste. Zack und zack und zack, mit ununterbrochener Unerbittlichkeit.

Das Zittern der Lebenslinien

Im Lauf des Lebens habe ich dann erfahren, dass es so nicht ist, dass also das Sterben nicht unbedingt eine Zack-und-Zack-Angelegenheit ist. Das Sterben ist ein Prozess, das Sterben dauert; es kann Tage, Wochen, Monate dauern. Ich habe das dann auch bei und mit meinem Vater erlebt. Auf der Intensivstation bin ich vor seinem Bett gesessen, habe mich, als er wie tot da lag, gefragt, wie viel Leben noch in ihm ist - und habe dann einfach mit ihm geredet, so als ob er mich hören und antworten könnte. Ich habe erstaunt die Augen aufgerissen, als dann die Linien, die auf den Bildschirmen die Körperfunktionen anzeigten, plötzlich zu zittern und auszuschlagen begannen. Das ist jetzt weit über zwei Jahrzehnte her.

Vor viereinhalb Jahren, am 16. Januar 2020, hatte der Bundestag erstmals über die sogenannte Widerspruchslösung zu entscheiden. Sie will, dass jede Person nach ihrem Hirntod potenzieller Organspender ist – außer sie hat zu Lebzeiten widersprochen. Damals wurde dies abgelehnt. Der Bundestag stimmte stattdessen mehrheitlich für die sogenannte „erweiterte Zustimmungslösung“. Sie erlaubt eine Organentnahme nur dann, wenn der Verstorbene zu Lebzeiten ausdrücklich erklärt hat, dass er nach seinem Tod Organspender sein wolle. Die „Erweiterung“ der erweiterten Zustimmungslösung besteht darin, dass nach dem Tod des potenziellen Organspenders auch Hinterbliebene zustimmen können. Soeben hat eine Gruppe von Abgeordneten fraktionsübergreifend erneut einen Antrag im Bundestag eingereicht, um die Widerspruchsregelung zum Gesetz zu machen. Der Hauptgrund: Es gibt viel zu wenige Organspender. Es geht um die letzten Dinge. Es geht auch um inneren Frieden.
SZPlus Prantls Blick
Nach meinem Tod
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Ich wünsche Ihnen erholsame, glückliche Sommerwochen
Heribert Prantl
Kolumnist und Autor der Süddeutschen Zeitung
SZ Mail
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Prantls Leseempfehlungen
Entspannung statt Eskalation
Günther Verheugen war Vizepräsident der EU-Kommission und er hat als EU-Kommissar die Osterweiterung der Europäischen Union dirigiert. Sein Wort hatte Gewicht, sein Buch, das er zusammen mit Petra Erler geschrieben hat, ist gewichtig; es ist akribisch und furios. Es zeigt die Fehler der amerikanischen und der europäischen Anti-Russland-Politik in furchterregender Klarheit. Das Buch entlarvt russische, amerikanische und europäische Kriegslügen. Es beklagt, wie bereitwillig sich auch Deutschland in den Ukraine-Krieg hineingeworfen hat. Das Buch ist ein Vademecum für jeden, der den Weg zu zuverlässiger Sicherheit sucht. Und es ist zugleich ein Lehrbuch der Staatskunst, weil es die Fehler auflistet, die nicht gemacht werden dürfen, wenn man den Frieden will: Verheugen zählt die einzelnen Stationen des Wegs in die Konfrontation auf - und zeigt, „dass die Verantwortung dafür nicht so eindeutig auf einer Seite liegt“. 

Schon vor einem Jahr hatte der SPD-Politiker Verheugen in einem Beitrag für die „Vorgänge. Zeitschrift für Bürgerrechte und Gesellschaftspolitik“ den Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier heftig gerügt, der in Bezug auf die deutsche Russlandpolitik gesagt hatte: „Wir haben uns geirrt.“ Man sollte, so Verheugen, ihn bei der Darstellung der Russland-Politik der letzten dreißig Jahre als bloßen Irrtum „nicht einfach so davonkommen lassen, weil diese Darstellung bestenfalls Selbstbetrug ist“. Man könne Weltpolitik nicht auf das Persönlichkeitsbild eines einzigen Mannes, also Putin, reduzieren. Ob es zu einem Waffenstillstand und in der Folge zu einem Friedensschluss kommt, wird sich, da gibt es für Verheugen kein Vertun, in Washington entscheiden und nirgends sonst. Aber er appelliert auch an die Deutschen, die „nach dem Zweiten Weltkrieg große Versöhnungsbereitschaft erfahren“ haben: „Wir sollten die Ersten sein, die den anderen die Hand zur Versöhnung reichen“.

Günther Verheugen / Petra Erler: Der lange Weg zum Krieg. Russland, die Ukraine und der Westen - Eskalation statt Entspannung. Das Buch ist im Mai im Heyne-Verlag erschienen, hat 336 Seiten und kostet 24 Euro.
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Kaltes Schinken-Käse-Baguette
Ich schreibe diese Leseempfehlung für einen grandios lehrreichen Text über die Bahn - in der Bahn. Die Kollegin Vivien Timmler hat die Frage gestellt, wie es kommt, was ich gerade erlebe: dass in der Schweiz alles „wie geschmiert“ läuft, der Bahnbetrieb in Deutschland aber „eine mittelschwere Katastrophe“ ist. Timmler hat sich zur Klärung mit zwei Experten in einen ICE gesetzt, Fragen gestellt und die Analysen der beiden Herren im SZ-Wirtschaftsreport vom Samstag protokolliert. Der eine Herr ist Peter Füglistaler, der Direktor des Schweizer Bundesamts für Verkehr, der andere Berthold Huber, der Infrastrukturvorstand der Deutschen Bahn. „Eigentlich war uns Deutschland voraus mit der Bahnreform“, sagt der Schweizer. 1994 wurden die beiden überschuldeten deutschen Staatsbahnen in eine privatrechtliche Aktiengesellschaft überführt; es sollte ein Neuanfang werden. Vier Jahre später zog die Schweiz nach, die Schweizerischen Bundesbahnen wurden in eine Aktiengesellschaft des öffentlichen Rechts umgewandelt. „Wir haben Deutschland kopiert“, sagt Füglistaler, setzt aber fort: „Mit einem Unterschied: Wir blieben immer gemeinwohlorientiert.“ Die Bahn in Deutschland blieb es nicht.

Die Folge ist Verwahrlosung. Verspätete Züge, ausfallende Züge, verstopfte Toiletten, fehlende Waggons; Türen, die nicht aufgehen, Türen, die nicht zugehen; ein löchriges Wlan-Netz, ein desaströser Handy-Empfang, Stillstand auf der Strecke – aber, immerhin, auch ein Personal, das trotz alledem zu stoischer Freundlichkeit neigt. Vor ein paar Jahren, als ich gerade eine Odyssee mit der Bahn hinter mir hatte, erinnerte ich mich in meinem Zorn an meine Zeit als Staatsanwalt und Strafrichter und schlug vor, den einstigen Bahnchef Mehdorn, der die Bahn bei seiner wahnhaften Vorbereitung auf deren Börsengang kaputtsparte, seiner verdienten Strafe zuzuführen:  Er sollte zu fünf Jahren Bahnfahren rund um die Uhr verurteilt werden, und zwar in Zügen mit defekten Toiletten und launischen Klimaanlagen. Und zum Essen nichts als ein kaltes Schinken-Käse-Baguette. Der Text von Vivien Timmler ist nicht so giftig, aber wunderbar analytisch.
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