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| | | | | Guten Tag, vor einem Jahr haben wir gefeiert und die Grundrechte gepriesen. Wir haben uns, zum siebzigsten Jubiläum des Grundgesetzes, an dessen Mütter und Väter erinnert - an wunderbare Demokraten wie Elisabeth Selbert und Carlo Schmid, an Widerstandskämpfer gegen Hitler wie Hermann Lous Brill und Jakob Kaiser. Als sie die Grundrechte formuliert haben, lag Deutschland in Trümmern, in Schutt und Elend. Der Katalog mit den Grundrechten entstand in einer Welt voller Unsicherheit. Hunderttausende "displaced persons" zogen damals durchs Land, ansteckende Krankheiten grassierten. Die Grundrechte sollten Sicherheit geben in einer Welt der Unsicherheit. Ein Fingerschnippen der Exekutive 71 Jahre später, in der Corona-Krise, soll nun die Aussetzung dieser Grundrechte Sicherheit geben. Noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik sind sie so flächendeckend, so umfassend und so radikal eingeschränkt worden. Die Freiheiten der Bürgerinnen und Bürger werden, wegen Corona, auf vorerst unabsehbare Zeit in bisher unvorstellbarer Weise beschnitten und aufgehoben - ohne großen gesetzgeberischen Aufwand, mit einem Fingerschnippen der Exekutive quasi. Es wurde eine Stimmung geschaffen, in der sich Menschenrechte und Menschenleben gegenüberstehen und die amtlich verordnete Aussetzung von Menschen- und Bürgerrechten als Preis für die Rettung von Menschenleben gilt. Es gibt daher eine große, bestrafungsgestärkte Bereitschaft der Menschen, durch das Ertragen dieser Maßnahmen Solidarität zu zeigen mit den Risikogruppen. Nationaler Hausarrest Die Schulen, die Kirchen, die Theater, die Kinos, Museen, die Säle und Stadien, die Kaufhäuser, Kindergärten, die Gasthäuser und Sportstudios, die Kultur- und die Einkaufszentren sind leergeräumt, die Volkshochschulen und die Veranstaltungskalender auch. Die Bewegungsfreiheit der Menschen wurde massiv eingeschränkt, die Gewerbefreiheit ist ausgesetzt, das Recht auf Eigentum ist suspendiert, Freizügigkeit gibt es nicht mehr, es gibt deutschlandweit Kontaktverbote und Kommunikationssperren, Hausarrest für die Bevölkerung. Das soziale und das wirtschaftliche Leben ist schwer erschüttert. Die verschwundene Streitkultur Und es gibt kaum Protest dagegen und keine Demonstrationen; letztere sind ja heute verboten. Die Grundrechtseingriffe im Corona-Jahr 2020 sind extremer, als man es in den sechziger Jahren befürchtete, als gegen die Notstandsgesetze demonstriert wurde. Demonstrieren - das konnte man damals, das tat man damals. Der Kampf gegen die Notstandsgesetze hat die noch junge Bundesrepublik verändert. In einem Land, das auf Untertanengeist gedrillt war, regten sich damals Widerspruch und Widerstand, auch schrill, mit Zuspitzungen und Übertreibungen; es entwickelte sich Streitkultur. Jetzt passiert das Gegenteil. Die Reaktion auf Corona verändert die gereifte Bundesrepublik. In einem Land mit einer bislang ausgeprägten Streitkultur verschwinden Kritik und Protest. Wo ist das kritische Potential der Gesellschaft? Eine Diskussion über Alternativen zur Aussetzung der Grundrechte hat praktisch nicht stattgefunden. Eine nennenswerte Debatte, ein Aufbegehren gab es nur, als Gesundheitsminister Jens Spahn das Handy-Tracking ins Infektionsschutzgesetz schreiben wollte. Die geplante Maßnahme wurde, nicht nur von Datenschützern, heftig kritisiert. Spahn hat dann, vorerst, wie er sagte, auf sie verzichtet. Die Schriftstellerin Juli Zeh hat dazu am Samstag in der Süddeutschen Zeitung richtig bemerkt, es sei "erstaunlich eigentlich, dass den Menschen ihr Handy wichtiger ist als ihre Bewegungsfreiheit oder die Schulpflicht ihrer Kinder". Erstaunlich ist es auch, wie stumm ansonsten die Schriftsteller in der Krise sind. Man hört und sieht vom kritischen Potential dieser Gesellschaft sehr wenig. Das Virus hat die Menschen und den Rechtsstaat befallen Hätte jemand vor einem Jahr, bei einer der vielen Grundgesetz-Feiern, die umfassende Aussetzung der Grundrechte vorhergesagt - er hätte als Spinner gegolten. Hätte er gesagt, dass das sogar ziemlich klaglos funktioniert, dass eine gewaltige Mehrheit der Bevölkerung diese staatlich verordneten Rigorositäten für richtig hält - man hätte ihn ausgelacht. Aber es ist so: Derzeit stimmen nach Umfragen 93 Prozent der Menschen diesen Maßnahmen zu. Die Macht der Bilder von den Corona-Toten aus Italien hat dazu geführt und die Macht der Statistik. Die Zahlen der bloßen Corona-Infektionen wurden und werden verkündet wie die Zahlen von Katastrophenopfern, und die Aussetzung der Grundrechte galt und gilt als Rezept gegen Corona. Das Virus hat nicht nur Menschen befallen, sondern auch den Rechtsstaat. Die Nöte der Not Das Land lebt im Notstand, der aber nicht Notstand genannt wird, sondern Shutdown, weil das gefälliger klingt. Die Väter des Shutdowns sind keine gewählten Politiker, keine Leute, die in Regierung oder Parlament Verantwortung tragen. Es sind vor allem zwei Virologen: Lothar Wieler, Chef des Robert-Koch-Instituts, und Christian Drosten, Leiter der Virologie an der Berliner Charite. Es sind dies zwei ganz hervorragende Medizinwissenschaftler und Epidemiologen. Aber: Eine demokratische Gesellschaft darf nicht nur auf Epidemiologen hören. Die Bundeskanzlerin muss eilig einen großen Krisenstab einrichten, in dem nicht nur Virologen und Gesundheitsexperten, sondern auch Grundrechts- und Gesellschaftsexperten sitzen - Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Expertinnen und Experten aus allen Bereichen der Gesellschaft. Sie sollen, sie müssen die Lage umfassend analysieren und den Ausstieg aus dem Lockdown vorbereiten. Das kann, das darf nicht allein die Sache der Naturwissenschaft sein, die ist einseitig, sie ist derzeit medizinisch-virologisch. Die Bundeskanzlerin ist selber Naturwissenschaftlerin, Physikerin. Naturwissenschaftler haben andere Vorstellungen von dem, was systemrelevant ist, als Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler, als Psychologen, als Experten aus Kultur, Kunst und Religion. Es geht um einen ganzheitlichen Blick auf die Gesellschaft. Es gibt viel zu tun. Es geht um den guten Weg aus der Krise und um die Rückkehr zu guter demokratischer Normalität. Dass wir diesen Weg bald finden - das wünscht sich und uns allen
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| | Ihr Heribert Prantl, Kolumnist und Autor der Süddeutschen Zeitung
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| | | | | | | | | Das Virus und das Leben | | In meinem oberpfälzischen Heimatstädtchen gab es einen gottesfürchtigen Mann, den wir Buben den "Sinnierer" nannten, weil er gern und oft, ob es nun um Fußball oder ums bevorstehende Osterfest ging, von der "Ewigkeit" redete, in der man es "dann schon sehen" werde. Was wir dann sehen würden, sagte er nicht; und es interessierte uns ehrlich gesagt auch nicht besonders, weil die Ewigkeit für uns fast so weit weg war wie die Stadt Regensburg, in die wir ein paar Mal im Jahr eine Stunde lang mit der Mutter und dem Omnibus fahren durften. Der Sinnierer war nicht nur ein Sinnierer, er war auch ein Tüpferlkramer, ein heiliger Geizkragen, der einem fünf Pfennig schenkte und dazu sagte: "Da, kaufst Dir eine Wurstsemmel dafür", die aber auch damals schon das Zehnfache kostete. Die Sinnierer gingen mir seitdem auf den Geist - solange bis ich den Kollegen Hermann Unterstöger und seine wunderbaren Texte kennenlernte. Bei ihm ist das Sinnieren von liebenswürdiger Leichtigkeit, nicht pedantisch, sondern präzise. Unterstöger kann über die eigene Endlichkeit so sinnieren, dass man mit dem Lesen gar nicht aufhören mag. So geht es einem in der SZ vom Wochenende, in der Unterstöger schreibt, wie es einem in Corona-Zeiten so ergeht, wenn man, wie er, zur Risikogruppe gehört. Hermann Unterstöger ist nämlich 77. Und man wünscht sich, dass er ewig weiterschreibt. | | |
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| | | Gottogott. Religion aus der Sicht eines Atheisten | | Das muss man erstmal schaffen: Freundliche Reaktionen sowohl von Anhängern der kirchenallergischen Giordano-Bruno-Stiftung ernten als auch von Freunden der christlich orientierten Zeitschrift Publik-Forum. Dem 57-jährigen englischen Philosophen Tim Crane ist dies Kunststück gelungen. Crane ist Atheist, und weil er seinen Atheismus ernst nimmt, lässt er den Vertretern des Neuen Atheismus, allen voran Richard Dawkins und Christopher Hitchens, ihre allzu simplen und oberflächlichen Argumentationsmuster nicht durchgehen. Was man kritisieren will, muss man zuvor verstanden haben, und Tim Crane erweist sich als ein so guter Religionsversteher, dass manche Gläubige beim Lesen staunend feststellen werden: Gottogott, so präzise könnte ich gar nicht ausdrücken, was ich denke. Scharfsinnig, geistreich, mit britischer Eleganz und Gelassenheit wirbt Tim Crane für kritische Toleranz gegenüber den Religionen. Nach Professuren am University College London und an der Universität Cambridge ist Crane seit 2017 Professor für Philosophie an der Central European University in Wien. Ungläubig wie er ist, glaubt er noch nicht einmal daran, dass es jemals eine Menschheit ohne Religion geben wird. Also sollten Religionskritiker aufhören mit dem Versuch, die Gläubigen zum Säkularismus zu bewegen und stattdessen auf friedliche Koexistenz setzen. Denn: Die politischen Probleme, die die Welt bewegen, brauchen die Kooperation beider, der Atheisten und Theisten. Tim Crane, Die Bedeutung des Glaubens. Religion aus der Sicht eines Atheisten. Das Buch, übersetzt aus dem Englischen von Eva Gilmer, ist 2019 erschienen im Suhrkamp Verlag, Berlin. Es hat 187 Seiten und kostet 22 Euro. | |
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