Wattenrat


Reloaded: Chronologie der Umgehungssstraße Bensersiel, Teil 2

Posted: 19 Jul 2017 04:45 AM PDT

Alles nicht so ernst gemeint? Sperrung der Ortsumgehung Bensersiel. Das Schild wurde von Spaßvögeln (eigentlich keine vorkommende Art im Vogelschutzgebiet!) mit einer Smiley-Folie überklebt. Foto (C): Manfred Knake

Bereits am 05. April 2014 erschien hier die erste „Chronologie“ über die rechtswidrig gebauten Umgehungsstraße um den Küstenbadeort Bensersiel in einem europäischen Vogelschutzgebiet, das wiederum direkt an den Nationalpark Niedersächsisches Wattenmeer und „Weltnaturerbe“ grenzt. Inzwischen sind drei Jahre vergangen, die Chronologie muss ergänzt werden. Vor einigen Wochen ist die „kommunale Entlastungsstraße“ für den öffentlichen Verkehr -halbherzig- gesperrt worden. Die Straße gehört jetzt zum Grundbesitz des zu unrecht enteigneten Landeigentümers, dem die Straße nach den Gerichtsurteilen nun „zugewachsen“ ist, wie es im Juristendeutsch heißt. Und der Landeigentümer hat auch den sog. „Folgenbeseitigungsanspruch“, er kann also den Rückbau dieser „schwarz“ gebauten Straße verlangen. Ob es soweit kommt, wird sich zeigen. Die Stadt Esens möchte den Rückbau vermeiden. Gespräche in diese Richtung wurden bereits mit dem Landeigentümer vor wenigen Tagen geführt, Details ganz unten.

Umgehungsstraße Bensersiel, Stadt Esens, LK Wittmund/NDS

Chronologie eines unglaublichen Straßenbauverfahrens – verfasst am 19. Juli 2017 von Manfred Knake:

* 2000: Beginn des Planfeststellungs- und Flurbereinigungsverfahrens, Enteignung des Landeigentümers durch „Besitzeinweisung“

* 2003: Öffentliches Beteiligungsverfahren mit den Trägern öffentlicher Belange und Naturschutzverbänden, Einwendungen von BUND und Landesverband Bürgerinitiativen Umweltschutz (LBU vertreten durch den Wattenrat Ostfriesland), der NABU gibt keine Stellungnahme ab. Der NABU-Kreisvorsitzende von Wittmund, Axel Heinze (SPD), ist Vorsitzender des Bau- und Umweltausschusses der Stadt Esens und stimmt für den Bau der Umgehungsstraße. Im Sommer Übergabe von mehr als 200 Unterschriften durch Bensersieler Bürger und Geschäftsleute gegen den Bau der Umgehungsstraße im Rathaus Esens an die stellv. Bürgermeisterin Ursula Uden (SPD). Man wolle den Besucherverkehr im Ort behalten.

* 2004: Beschwerde des Wattenrates bei der EU-Kommission gegen die Planung von Golfplätzen (Neuharlingersiel) und Umgehungsstraße Bensersiel im „faktischen Vogelschutzgebiet“. Die Beschwerde wird zunächst zurückgewiesen, weil das Land Niedersachsen die Wertigkeit verneint.

* 2006: Nach der ergänzenden Übersendung von gutachterlich festgestellten detaillierten Vogeldaten durch den Wattenrat wird Niedersachsen im April 2006 von der EU angewiesen, das Vogelschutzgebiet von Norden bis nach Esens nachzumelden. Dem wird nachgekommen, aber unter der Aussparung der Planungsflächen für die Umgehungsstraße Bensersiel und der Golfplätze in Neuharlingersiel.

* 2008: Am 22. Mai 2008 verliert der Landeigentümer und Kläger vor dem OVG Lüneburg zunächst den Prozess gegen die Stadt Esens, weil der Prozessbevollmächtigte der Stadt Esens, Prof. Dr. Bernhard Stüer, vor Gericht falsch vorträgt und das Bestehen eines Vogelschutzgebietes verneint (Protokoll S.5). Das OVG Lüneburg ließ in seinem Urteil eine Revision nicht zu (Urteil OVG Lüneburg vom 22. 05. 2008 – 1 KN 149/5). Die Stadt kündigte nach dem Urteil den Baubeginn der Umgehungsstraße an.

* 2009: Am 22. April um 11.00 Uhr beginnt mit dem „ersten Spatenstich“ der Bau der „kommunalen Entlastungsstraße“ durch Bürgermeister Klaus Wilbers (SPD), Stadtdirektor Jürgen Buß, Landrat Henning Schultz (CDU) und, last but not least, den Landtagspräsidenten Hermann Dinkla (CDU), der im Nachbarort Westerholt wohnt.

* 2009: Der Kläger, in Kenntnis der unrichtigen Darstellung Verfahrensbevollmächtigten der Stadt Esens zum „faktischen Vogelschutzgebiet“, erreichte in einer erfolgreichen Nichtzulassungsbeschwerde gegen die vom OVG Lüneburg verwehrte Revision eine Wiederaufnahme des Verfahrens gegen den B-Plan 67 vor dem Bundesverwaltungsgericht in Leipzig, mit dem Ziel festzustellen, ob die Straße rechtmäßig in einem Vogelschutzgebiet gebaut werde. Der Wattenrat stellt dem Kläger seine EU-Beschwerde und die fachliche Stellungnahme zu den Vogelvorkommen im Gebiet zur Verfügung.

Hinweis auf die Straßensperrung, Juli 2017, Foto (C): Manfred Knake

* 2009: Der Kläger, in Kenntnis der unrichtigen Darstellung Verfahrensbevollmächtigten der Stadt Esens zum „faktischen Vogelschutzgebiet“, erreichte in einer erfolgreichen Nichtzulassungsbeschwerde gegen die vom OVG Lüneburg verwehrte Revision eine Wiederaufnahme des Verfahrens gegen den B-Plan 67 vor dem Bundesverwaltungsgericht in Leipzig (Beschluss BVerwG vom 17. Juni 2009 – 4 BN 28.08), mit dem Ziel festzustellen, ob die Straße rechtmäßig in einem Vogelschutzgebiet gebaut werde. Anschließend legteine neue Klage vor dem Bundesverwaltungsgericht in Leipzig gegen den Straßenbau ein. Der Verwaltungsausschuss der Stadt Esens beschließt, den Bebauungsplan mit dem B-Plan Nr. 72 neu aufzustellen. Der Straßenbau musste vom September 2009 bis Februar 2010 wegen Rechtsunsicherheiten gerichtlich stillgelegt werden, eine finanzielle Einigung mit dem Kläger erfolgt nicht. Eile ist für die Stadt Esens deshalb geboten, weil die Fördermittel für den Bau der Straße bis spätestens 31. Dezember 2009, also sechs Wochen später, abgerufen werden müssen, sonst verfallen sie.

* 2009: Vor der Aufstellung des neuen B-Planes 72 findet daher die Antragskonferenz (Scoping-Termin) nach § 6 des Gesetzes über die Umweltverträglichkeitsprüfung in Wittmund statt; an diesem Termin nimmt der Chronist teil. Teilnehmer sind u.a. Vertreter der Stadt Esens, der Anwalt der Stadt, Prof. Dr. Bernhard Stüer, Vertreter des Landkreises Wittmund, die Polizei, Naturschutzverbände und ein Vertreter des Planungsbüros „Thalen Consult“ aus Neuenburg. Auf die konkrete Nachfrage des Chronisten an den Vertreter des Planungsbüro räumt dieser ein, dass keine eigentlich vorgeschriebene Verträglichkeitsprüfung hinsichtlich der Vorgaben des Bundesnaturschutzgesetzes (§ 34) in diesem „faktischen Vogelschutzgebiet“ erfolgt sei.

* 2010: Am 08. Februar 2010 beschließt der Rat der Stadt Esens den Bebauungsplan Nr. 72 „Kommunale Entlastungsstraße Bensersiel“ als Satzung. Die Straße soll nun einen Belag aus „Flüsterasphalt“ und eine Lärmschutzwand in Richtung Vogelschutzgebiet nach Süden erhalten. Der Straßenbau wird nach der vorübergehenden Aussetzung fortgesetzt. Weder Flüsterasphalt noch Lärmschutzwand wurden aber später gebaut, da für diese Maßnahmen keine Fördermittel bereitgestellt wurden und diese zusätzlichen Baumaßnahmen eine Million Euro Mehrkosten verursacht hätten.

Der NABU, Landesverband Niedersachsen in Hannover, will mit einem Antrag beim OVG Lüneburg erreichen, dass die Bautätigkeit für die Umgehungsstraße bis zu einer endgültigen Gerichtsentscheidung eingestellt wird. Der Antrag wird vom OVG Lüneburg kostenpflichtig zurückgewiesen. Der NABU unternimmt keine weiteren Schritte, um gegen den Straßenverlauf im „faktischen Vogelschutzgebiet“ rechtlich vorzugehen. Am 08. Februar 2010 beschließt der Rat der Stadt Esens den Bebauungsplan Nr. 72 „Kommunale Entlastungsstraße Bensersiel“ als Satzung.

Ein europäisches Vogelschutzgebiet? Illegaler Straßenbau, Intensivlandwirtschaft und ein riesiger Windpark direkt am Schutzgebiet, für Brutvögel entwertet. Foto (C): Manfred Knake

* 2011: wird die 2,1 Kilometer lange „kommunale Entlastungsstraße Bensersiel“ mit einem neuen Brückenbauwerk dem Verkehr übergeben.

* 2012: Am 10. Februar setzt die Stadt Esens durch den Stadtdirektor Buß den Wattenrat darüber in Kenntnis, dass alle erneuten fachlichen Einwendung durch den Rat als „teilweise zutreffend“ und „nicht zutreffend“ zurückgewiesen wurden.

* 2013: Am 10. April urteilt das OVG Lüneburg (1 KN 33/10), dass der B-Plan Nr. 72 der Stadt Esens „rechtsunwirksam“ ist. Damit entfällt die Rechtsgrundlage für den B-Plan 72. Eine Revision wird vom Gericht nicht zugelassen. Die Revisionsbeschwerde (Nichtzulassungsbeschwerde) der Stadt Esens wird vom BVerwG in Leipzig zurückgewiesen.

* 2014: Am 27. März urteilte das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig (Nr. 23/2014 BVerwG 4 CN 3.13): Unzulässige Straßenplanung im faktischen Vogelschutzgebiet nicht durch nachträgliche Gebietsmeldung „geheilt“ – Das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig hat heute entschieden, dass ein Bebauungsplan für eine Ortsumgehungsstraße, der die Straßentrasse in einem faktischen Vogelschutzgebiet festsetzt und damit gegen das Beeinträchtigungsverbot der europäischen Vogelschutzrichtlinie (V-RL) verstößt, nicht dadurch nachträglich „geheilt“ wird, dass das Land nach Abschluss der Planung ein Vogelschutzgebiet an die EU-Kommission meldet, das an die Straßentrasse heranreicht, diese aber nicht in das Schutzgebiet einbezieht. […]

* 2015: Das OVG Lüneburg hebt die zu unrecht erfolgte Besitzeinweisung (Enteignung) des Klägers auf. Am 01. August 2015 werde die nun überbauten Flächen vom Amt für regionale Landesentwicklung (ArL), eine Behörde des Landes Niedersachsen, wieder in das Eigentum des Klägers zurückgegeben. Die Straße gehört damit dem erfolgreichen Kläger, sie ist ihm rechtlich „zugewachsen“.

Bensersiel: Im Herbst bis zum Frühjahr rasten in diesem Vogelschutzgebiet hunderte arktische Gänse und Watvögel. Foto (C): Manfred Knake

* 2016: Am 13. Okt. 2016 tritt die Landschaftsschutzverordnung für Landschaftsschutzgebiet 25 II „Ostfriesische Seemarsch zwischen Norden und Esens im Bereich Bensersiel, Samtgemeinde Esens, Landkreises Wittmund“ in Kraft. Der Verordnung liegt ein Gutachten des ehemaligen Mitarbeiters des nieders. Umweltministeriums, Ministerialrat a.D. Prof. Dr. Hans Walter Louis, zugrunde. Das Gutachten wurde vom Landkreis Wittmund für 50.000 Euro in Auftrag gegeben. Paragraf 3 der Verordnung verbietet das Befahren von nicht gewidmeten Straßen für „Kraftfahrzeuge aller Art“. Demnach muss die Umgehungsstraße zwingend für den öffentlichen Verkehr gesperrt werden.

* 2017: Im Juni wird der ehemalige Rechtsbeistand der Stadt Esens, Prof. Dr. Stüer, in einer anderen Rechtssache wegen „schweren Parteiverrats“ vom Landgericht Münster zu 14 Monaten Freiheitsstrafe verurteilt. Nach dem noch nicht rechtskräftigen Urteil darf der 69-Jährige seinen Beruf als Anwalt nicht mehr ausüben, verliert sein Notariat, eventuell auch seine Lehrbefugnis als Honorarprofessor und sein Bundesverdienstkreuz, wie der Richter andeutete. Prof. Stüers Anwalt kündigt Revision an.

* 2017: Erst am 16. Juni (also acht Monate nach Inkrafttreten der LSG-Verordnung!) sperrt die Stadt Esens die Umgehungsstraße mit dem Verkehrsschild Nr. 250 „Verbot für Fahrzeuge aller Art“. Die Sperrung erweist sich als wenig wirksam, die Schilder werden nicht selten durch Verkehrsteilnehmer ignoriert. Der Sperrung vorangegangen war eine Sitzung des Verwaltungsausschusses der Stadt Esens am 14. Februar 2017, in der der neue Rechtsbeistand der Stadt Esens, Prof. Dr. Martin Gellermann, deutlichst auf die rechtliche Notwendigkeit der Straßensperrung hingewiesen hatte. Gellerman soll auf der Sitzung die Niederlegung seines Mandats angedeutet haben, falls die Stadt Esens nicht kooperiere.

* 2017: Der erfolgreiche Kläger und Landeigentümer ist bis dato (18. Juli 2017) nicht entschädigt worden. Es lag bisher nur ein völlig unzureichendes Angebot durch den Stadtdirektor vor.

Wirksame Sperrung während des Straßenbaus: August 2009, Foto (C): Manfred Knake

* 2017: Am 29. Juni Treffen des Landeigentümers mit Vertretern des Vereins „Bensersiel aktiv“, der vorher Stimmung in der Lokalpresse gegen den erfolgreichen Kläger gemachte hatte. Der Verein setzt sich für den Erhalt der Straße ein. Am 30. Juni Treffen des Landeigentümer-Ehepaars auf Initiative von „Bensersiel aktiv“ im Rathaus von Esens mit dem Stadtdirektor Harald Hinrichs, Bürgermeisterin Karin Emken (SPD), dem ehemaligen Ratsherrn und ehem. Bürgermeister Klaus Wilbers (SPD) und Vereinsvertretern von „Bensersiel aktiv“. „Dem Vernehmen nach“ soll von Esenser Stadtverwaltung für den Rat der Stadt Esens eine Vorlage für ein annehmbares Entschädigungsangebot vorbereitet werden. Im Gegenzug soll dafür der Landeigentümer alle noch anhängigen Klagen zurückziehen. Zur Erläuterung: Eine noch anhängige Klage richtet sich gegen die Stadt Esens wegen Schadensersatzforderungen durch die unrechtmäßige Enteignung und die damit verbundenen Pachtausfälle; eine weitere Klage gegen die Stadt Esens wegen der unzureichenden Sperrung der Straße, die durch die bloße Beschilderung nicht wirklich gesperrt ist und dadurch mögliche Haftungsfolgen nach sich ziehen kann. Und schließlich eine Klage gegen den Landkreis Wittmund wegen der möglichen fehlerhaften Abgrenzung des Landschaftsschutzgebietes in der Landschaftsschutzverordnung von 2016. Dieses interne Treffen ohne Ratsbeteiligung rief den Protest der im Rat der Stadt Esens vertretenen Gruppe „Bündnis Zukunft Esens“ (BZE) hervor: https://www.bzesens.de/kommunale-entlastungsstra%C3%9Fe/ und hier https://www.bzesens.de/aktuelle-themen/kes-17-07-2017-neues-angebot/

Bewertung und Ausblick:

So verständlich das Ansinnen des Landeigentümers ist, nach den vielen Jahren des Prozessierens endlich ausreichend entschädigt zu werden und dadurch auch ggf. auf alle weiteren Klagen zu verzichten, es gäbe dann keinen absehbaren Kläger mehr gegen die Nutzung oder für den Rückbau der eindeutig rechtswidrig gebauten Straße. Die Gerichtsurteile des OVG Lüneburg und des Bundesverwaltungsgerichts zur Rechtsungültigkeit der Bebauungspläne hätten weiterhin Bestand, würden aber auch weiterhin missachtet. Die Straße würde mit der Entschädigung vom Landeigentümer zurückgekauft und mit Sicherheit auch weiter genutzt werden. Dafür müsste die Landschaftsschutzverordnung erneut angepasst und geändert werden. Was nicht passt, wird eben passend gemacht! Die Rückzahlung der in Anspruch genommenen öffentlichen Fördermittel für den Straßenbau in Höhe von ca. 5,4 Millionen Euro müssten nicht zurückgezahlt werden. Dazu kommen die enormen Anwalts- und Gerichtskosten von inzwischen ca. 350.000 Euro, für die auch der Steuerzahler aufkommen muss. Kein Amtsträger würde für den eingetretenen Vermögensschaden für die Stadt Esens in Amtshaftung genommen werden. Die Stadt Esens würde sogar noch für ihre unglaubliche Dreistigkeit der Missachtung von europäischem Naturschutzrecht und der rechtswidrigen Durchsetzung des Baus der Umgehungsstraße als „Sieger“ in dieser Sache hervorgehen, mit Unterstützung des Landkreises Wittmund und des Landes Niedersachsen, die beide kommunalaufsichtlich versagt haben und Mitakteure der politischen Tricksereien sind. Wirksamer Naturschutz in diesem europäischen Vogelschutzgebiet fände nach wie vor nicht statt. Diese Vorgänge sind eigentlich ein Fall für den Landesrechnungshof, den Bund der Steuerzahler und vielleicht sogar für die Staatsanwaltschaft.