Heribert Prantl beleuchtet ein Thema, das Politik und Gesellschaft (nicht nur) in dieser Woche beschäftigt.
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9. Februar 2025
Prantls Blick
Die politische Wochenschau
Prof. Dr. Heribert Prantl
Kolumnist und Autor
SZ Mail
Guten Tag,
 ich bin jetzt seit 35 Jahren Journalist. Das sage ich deswegen, weil ich in all dieser Zeit einen solchen Wahlkampf noch nicht erlebt habe. Es ist ein Wahlkampf, der so tut, als gäbe es kein anderes Thema außer Asyl und Migration. Dem Fünf-Punkte-Migrationsplan des Unions-Kanzlerkandidaten Friedrich Merz ist es gelungen, den Wahlkampf zu monopolisieren und den Eindruck zu erwecken, die Umsetzung einer Reihe von extremen und extremsten Forderungen sei der Schlüssel zur Lösung der wichtigsten Probleme in Deutschland. Das Gegenteil ist richtig.

Exemplarisch lässt sich das zeigen an folgender Merz-Forderung, die üblicherweise nur in verkürzter Darstellung wiedergegeben wird, aber ungeheuerlich ist: „Personen, die vollziehbar ausreisepflichtig sind, dürfen nicht mehr auf freiem Fuß sein. Sie müssen unmittelbar in Haft genommen werden. Die Anzahl an entsprechenden Haftplätzen in den Ländern muss daher signifikant erhöht werden.“ In den Diskussionen wird bisweilen so getan, als seien damit nur Straftäter gemeint. Aber das stimmt nicht. „Vollziehbar ausreisepflichtig“ sind in Deutschland (zum Stichtag 31. Dezember 2024) 220 808 Menschen. Zu den vollziehbar Ausreisepflichtigen zählen nämlich auch alle Personen mit einer sogenannten Duldung, darunter sind solche, die schon Jahrzehnte in Deutschland leben und arbeiten oder eine Ausbildung machen, sogar solche, die hier geboren sind.

Zu diesen Ausreisepflichtigen zählen nicht nur abgelehnte Asylbewerber, sondern auch Menschen im sogenannten Overstay, also zum Beispiel Studierende, Arbeitnehmer oder Touristen, deren Visum abgelaufen ist. Die Duldung kann darauf basieren, dass die Ausreise zwar rechtlich, aber nicht faktisch vollziehbar ist, zum Beispiel wegen der Zustände, die im Heimatland herrschen, oder wegen einer gravierenden Erkrankung.

Falscher Eifer

Wörtlich genommen bezieht sich die Haftdrohung im Merz-Migrationsplan auf all diese Menschen. Und dann folgt, wie das gehen soll: „Der Bund wird die Länder dabei unterstützen und schnellstmöglich alle verfügbaren Liegenschaften, darunter leer stehende Kasernen und Containerbauten, zur Verfügung stellen.“ Der Eifer der CDU-Wahlkämpfer bezieht sich also nicht, wie es angesichts der dramatischen Situation auf dem Wohnungsmarkt geboten wäre, auf den Bau von Sozialwohnungen, sondern auf den Bau von Haftplätzen. Leerstehende Kasernen sollen nicht in Wohnungen, sondern in Knäste verwandelt werden. Wer dies fordert und so formuliert („vollziehbar Ausreisepflichtige müssen unmittelbar in Haft genommen werden“), hat entweder keine Ahnung von der Materie oder ist im Rechtsextremismus zu Hause. Und selbst wenn mit den unmittelbar zu verhaftenden Personen „nur“ diejenigen gemeint sein sollten, die ihre Duldung nicht verlängert haben (sogenannte „unmittelbare Ausreisepflichtige“) wären das 43 200 Menschen – und es ginge eine irrwitzige Verhaftungswelle durch das Land. Man bräuchte allein für sie eine Zahl von Abschiebehaftplätzen, die sechzig Prozent der gesamten derzeitigen Gefängniskapazitäten in Deutschland ausmachen. Wer soll das bezahlen? Woher soll das Personal kommen?

Solche Forderungen des Merz-Migrationsplans sind also entweder kenntnislos, leichtfertig oder irrwitzig. Es wäre gut, wenn die Wahlkampfsendungen der zwei nächsten Wochen noch Seriosität, Praktikabilität, Lebenstauglichkeit, Brauchbarkeit und Zweckmäßigkeit in den Wahlkampf pumpen könnten. Brachliegende Themen gäbe es genug: die Lebensmittel- und die Energiepreise, den unbefriedigenden Zustand der Schulen und Bildungseinrichtungen. Die prekäre Situation auf dem Wohnungsmarkt, den brachliegenden sozialen Wohnungsbau, die zum Teil trostlosen, miserablen und desaströsen Verhältnisse in der Pflege alter Menschen.

Im Jahr nach dem großen Grundgesetzjubiläum wäre es vielleicht angebracht, Grundrechte für eine alternde Gesellschaft zu entwickeln, kleine große Grundrechte, die den pflegebedürftigen alten Menschen zur Seite stehen. Das erste Gebot könnte so aussehen: Jeder pflegebedürftige Mensch muss seine Mahlzeiten in dem Tempo erhalten, in dem er sie kauen und schlucken kann. Es wäre gut, wenn auch diese vermeintlich kleinen Dinge zu einem Wahlkampf gehören. Im Jahr 2030 werden fünfeinhalb Millionen Menschen solche Fürsorge brauchen. Schon heute fehlen mindestens 200 000 Pflegekräfte. In einigen Pflegeheimen machen Pflegekräfte mit Migrationshintergrund bis zu vierzig Prozent des Personals aus.
SZPlus Prantls Blick
Was die Demos bringen
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Ich wünsche uns einen Restwahlkampf, der den Problemen unseres Landes gerecht wird. 2024 war das heißeste Jahr seit Wetteraufzeichnung. Wir sind auf dem Pfad zu drei Grad Erderwärmung mit katastrophalen Folgen für die Menschheit. Und im Wahlprogramm der CDU steht davon kein Wort.
Heribert Prantl
Kolumnist und Autor der Süddeutschen Zeitung
SZ Mail
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Prantls Leseempfehlungen
Sein Zuhause ist in Syrien und in Deutschland
Da schreibt sich einer zwischen die Welten, zwischen zwei Sprachen, zwischen nicht vergehender Vergangenheit und nicht anbrechender Zukunft; da versucht sich einer zu orientieren in unübersichtlichen Zeiten. In diesen Tagen schreibt er sich auch zwischen die aufgeladene Debatte über Abschiebungen nach Syrien, über Integration und Abweisung von Geflüchteten. Er schreibt sich zwischen den Fünf-Punkte-Plan von Friedrich Merz und das Zustrombegrenzungsgesetz.

Ich lege Ihnen das kleine, feine Büchlein von Wael Deeb ans Herz. Wael Deeb ist 1984 in Damaskus geboren, er ist 2014 nach Deutschland geflohen, er ist Journalist, Sozialarbeiter – und ein Poet. „Ich stelle mir vor, einen sympathischen Gast durch mein Zuhause zu führen. Wir beide vertrauen uns rückhaltlos. Wir beide genießen das Miteinander und wollen dabei kaum auf die Uhr schauen. Genau das wäre eine gelungene Integration“, sagt er. Sie werden nicht auf die Uhr schauen, wenn Sie sich von Wael Deeb durch sein Zuhause führen lassen. Sein Zuhause ist in Syrien und in Deutschland. Sein Zuhause ist seine Erinnerung und seine Sprache. Sein Zuhause ist seine Familie und sein Beruf. Sein Zuhause ist nicht überall übersichtlich und nicht wohl sortiert in Ordnern, vieles fügt sich nicht zusammen, aber es ist dort gastfreundlich und warm. Wenn Sie am Ende Wael Deebs Büchlein aus der Hand legen, haben Sie vielleicht eine Stunde mit ihm verbracht, oder auch einen ganzen Nachmittag, weil Sie die humorvolle und zugleich bittere Poesie seiner Worte nachklingen lassen oder weil Sie Ihren Blick fesseln lassen von den eindringlichen Bildern der beiden Künstler Khaled Hussein und Ghazwan Assaf, die die Texte begleiten.

Wer verstehen will, wie es sich als Geflüchteter, zumal als Geflüchteter aus Syrien gegenwärtig lebt, sollte sich in dieses Buch vertiefen, am besten nicht nur ein Mal. Das wunderbare Buch ist ein Projekt der Diakonie Hessen.

Wael Deep: Wenn dein Gesicht zu deinem Gast wird. Kurzgeschichten zwischen Syrien und Deutschland. Das Buch, mit einem lesenswerten Vorwort von Andreas Lipsch, ist online eingestellt im Portal „Menschen wie wir“ der Diakonie Hessen und als Print gegen eine Spende von fünf Euro bestellbar per E-Mail an [email protected].
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Vierbeiner und Zweibeiner
Der Kollege Hans Gasser hat den Fotografen Lois Hechenblaikner interviewt, der seit 25 Jahren den Sauftourismus in Österreich fotografiert – die Auswüchse des Après-Ski in Ischgl oder St. Anton. Hechenblaikner kennt sich da aus, er ist selbst Tiroler; und er macht sich Gedanken darüber, wie es zu Exzessen an den Pisten kommt: „Auffallend viele Bars werden von Bauernkindern oder zumindest von Menschen mit bäuerlichem Hintergrund betrieben. Da steckt die Schlauheit und Hinterhältigkeit des Viehhändlers drin. Nicht umsonst heißen viele Lokale irgendwas mit Stall oder Tenne. Ob sie Vierbeiner oder Zweibeiner bewirtschaften, ist ihnen egal. Sie wollen gute Geschäfte machen.“ Lesenswert!
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