Kurt Kister gibt Einblick in deutsche Alltagsmomente
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28. Februar 2025
Deutscher Alltag
Guten Tag,
Deutschlehrerinnen sind meistens aufgeschlossen, sensibel und mäßig idealistisch. Bei ihren männlichen Kollegen treffen oft höchstens zwei dieser Eigenschaften zu, wobei sich, weil die SZ neuerdings auch eine partizipative Homepagezeitung ist, jede Leserin und jeder Leser jetzt selbst aussuchen kann, welche Eigenschaft der männliche Deutschlehrer nicht hat. Vor langer Zeit, es könnte in der 7. Klasse gewesen sein, stand bei mir auf dem Stundenplan „Bildbeschreibung“, was wiederum, nehme ich an, auch auf dem Lehrplan unseres wenig idealistischen Deutschlehrers stand. (Heute verstehe ich das, weil einem beim kontinuierlichen Umgang mit Menschengruppen, sei es in der Schule, im Verein oder in der Redaktion, der Idealismus durchaus vergehen kann.)

Als ich dieser Tage dieses eine Foto sah, dachte ich an die Aufsatzform „Bildbeschreibung“. Ein Bild, so lernten wir damals, könne typisch sein für eine bestimmte Zeit, eine bestimmte Epoche. Es geht, das sind jetzt meine Worte mehr als 50 Jahre nach der siebten Klasse, nicht nur um das, was man sieht, sondern auch um das, was das Bild aussagt. Gerhard Richters berühmtes Bild „Tante Marianne“ von 1965 zeigt zum Beispiel ein Mädchen mit einem Kleinkind. Die Vorlage für das grau-dunkle, fotorealistische Gemälde ist eine Aufnahme aus dem Jahr 1932, das den sehr jungen Gerhard mit seiner damals 14-jährigen Tante Marianne Schönfelder zeigt. Tante Marianne, die wohl schizophrene Züge entwickelte, wurde 1938 von Nazi-Ärzten als „lebensunwertes Leben“ zwangssterilisiert und starb 1945 in einer pseudomedizinischen Mordanstalt. Das alles sieht man auf Richters Bild nicht. Aber man spürt gestaltloses Grauen.

Nun kann man das Foto, das ich meine, bestimmt nicht mit einem Richter-Bild vergleichen. Und auf ihm ist auch nicht gestaltloses Grauen zu sehen, sondern zwei sehr eindeutige Gestalten, bei deren Anblick einem allerdings schon das Gruseln kommen kann. Man sieht Elon Musk mit schwarzer Mütze, einer schwarzen Sonnenbrille und einem Kurzmäntelchen, wie er eine rote Kettensäge in die Höhe hebt. Rechts von ihm steht der argentinische Präsident Javier Milei mit seinem Siebzigerjahre-Moppkopp-Haarschnitt und reckt zwei Daumen nach oben. Musk, von dem aus nachvollziehbaren Gründen immer mehr Leute kein Auto kaufen wollen, hat den Mund weit aufgerissen, weil er irgendwas in die Menge brüllt, die ihn auf einer trumpistischen Veranstaltung in Maryland feiert.

Zwei mittelalte, maximal narzisstische Männer, von denen der eine ein Präsident ist und der andere einen Präsidenten in der Jackentasche hat, auch wenn der Jackentaschenbewohner glaubt, er sei eigentlich König von Amerika. Die beiden benehmen sich wie bekokste, menschgewordene Tiktok-Postings: Daumen hoch, Sonnenbrille in geschlossenem Raum, Deppenlachen. Die Kettensäge halten sie für ein Instrument der Freiheit, weil sie glauben, Regeln, Organisation und Anstand würden Unfreiheit bedeuten. Sie sind fröhliche, rücksichtslose Gewalttäter, denn wer sich so zur Kettensäge bekennt, bekennt sich auch zur Gewalt – verbal, indirekt oder direkt. Dass ausgerechnet der Liberale Christian Lindner vor ein paar Wochen meinte, man solle „ein klein bisschen mehr Milei oder Musk wagen“, mag einer der vielen Gründe dafür gewesen sein, dass die FDP im Bundestag jetzt gar nichts mehr wagen kann.

Dass man als Mensch und Konsument auf Plakaten, im Netz, bei Whatsapp und anderswo allüberall von Daumenhochhaltern und Breitgrinsekatzen umgeben ist, hat damit zu tun, dass sich die Gesellschaft mehr und mehr der Bildschirmwischkultur (BWK) angleicht. Es wird gepostet und gepost auf Teufel komm raus. Zwar hat die BWK durchaus auch positive Eigenschaften, was aber nichts daran ändert, dass Musk in sich die negativen Eigenheiten der BWK mit den negativen Eigenheiten eines superreichen Großkotzes vereinbart. Elon Musk und sein ihm untergebener Vorgesetzter stehen gleichsam idealtypisch für vieles, was im 21. Jahrhundert schiefläuft. Javier Milei gesellt sich als Gesinnungskamerad aus dem Süden gerne zu ihnen. Dass Alice von den AfD-Blaumiesen diese Sonnenbrillen-Machos ebenfalls gut findet, ist bezeichnend, auch wenn sie eher der Typ Laubsäge als Kettensäge ist. Übrigens finde ich, ohne Dackelfreunde in irgendeiner Art provozieren oder gar beleidigen zu wollen, dass zu Frau Weidel ein schwarzbrauner Glatthaardackel passen würde, der im Winter ein Berchtesgadener Trachtenjäckchen aus Goretex trägt. Dackel laufen gut auf Insta.

Phänomenologisch jedenfalls hat den Menschen im öffentlichen Raum in den letzten paar Jahren nichts so sehr verändert wie die stets griffbereite Kamera im Telefon. Dass einer wie Musk auf Bühnen mit zu kurzem T-Shirt herumhüpft, als sei er vom Veitstanz befallen, liegt ja nicht daran, dass er wirklich unter Chorea Huntington leidet. Er macht nach, was er in Videos oder Tiktok-Filmchen sieht, und weil er Musk ist, macht er’s dann auch wieder vor: aufgerissener Mund, hochgereckte Arme, Tanzbewegungen, Handherzchen (Letzteres macht Musk eher nicht). Ähnliches sieht man täglich an der Mariensäule, dem Marktplatz oder irgendeinem anderen Instaspot. Ich posiere, also bin ich.

Klar, ich weiß schon: In der Postpostmoderne wollen alle ihre aus Andy Warhols Moderne stammenden 15 Minuten der Berühmtheit so lange ausdehnen, wie sie nur Speicherplatz haben. Und der ist in der Cloud unendlich. Schöne neue Welt.
Kurt Kister
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