Heribert Prantl beleuchtet ein Thema, das Politik und Gesellschaft (nicht nur) in dieser Woche beschäftigt.
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26. November 2023
Prantls Blick
Die politische Wochenschau
Prof. Dr. Heribert Prantl
Kolumnist und Autor
SZ Mail
Guten Tag,
damals waren es mehr, viel, viel mehr. Die Friedensbewegung von heute ist unendlich viel kleiner; es bewegt sich zu wenig. Zu Friedensdemonstrationen heute kommen nicht Hunderttausende wie in den frühen 1980er-Jahren in Bonn und in vielen anderen deutschen und europäischen Städten. Es kommen nur, wenn es gut geht, ein paar Zehntausend Menschen. Am gestrigen Samstag waren nur ein paar Tausend Menschen vor dem Brandenburger Tor. Das hatte wohl auch den Grund, dass die Kundgebung dort zwei politisch sehr unterschiedliche Probleme zusammenpackte: den Krieg in der Ukraine und den Krieg in Gaza. Das kann nur schiefgehen.

Den Friedensdemonstranten heute fehlt die Anerkennung, die sie damals, in den 80er-Jahren, selbst bei ihren politischen Gegnern hatten. Vor vierzig Jahren, im November 1983, Helmut Kohl war seit einem Jahr Bundeskanzler, stimmte der Bundestag der Stationierung nuklearer US-Mittelstreckenraketen in der Bundesrepublik zu. Die Friedensbewegung unter dem Motto „Kampf dem Atomtod“ hatte in dieser Zeit Massenzulauf. Die nukleare Gefahr für Europa ist heute nicht kleiner als damals. Man darf davon ausgehen, dass Russland seit dem Überfall auf die Ukraine seine taktischen Atomwaffen auf Mitteleuropa gerichtet hat; und die USA lagern auch heute, wie damals, taktische Atomwaffen in Deutschland.

Friedensdemonstranten sind keine Feinde

Es ist angebracht, an den integren Liberalen Wolfgang Mischnick zu erinnern. Er war 23 Jahre Fraktionsvorsitzender der FDP im Bundestag, sowohl in der Zeit der sozialliberalen Koalition unter den Kanzlern Willy Brandt und Helmut Schmidt; als auch in der Koalition aus CDU/CSU und FDP unter Kanzler Kohl. Zwar kritisierte Mischnick damals die Kritiker des Nato-Doppelbeschlusses, die verkennen würden, dass zur Sicherung des Friedens nicht nur der Wille zum Frieden, sondern auch der „Wille zur Verteidigungsbereitschaft“ erforderlich sei. Aber dann setzte er fort: Dennoch dürfe man solche „Andersdenkende“ nicht wie Feinde behandeln.

Heute hingegen gibt es aufseiten derer, die Aufrüstung propagieren, kaum mehr eine Stimme, die hörbar mahnt, die Friedensdemonstranten zu respektieren. Rolf Mützenich, der SPD-Fraktionschef, denkt so – aber seine Stimme geht im breiten Strom der Kriegsertüchtiger unter. Die deutsche und europäische Politik krankt an der Absenz einer starken Friedensbewegung.

Es ist ungut, wenn Demonstranten, die vor einer Eskalation des Krieges in der Ukraine warnen, als „Putinversteher“ tituliert werden. Es ist ungut, wenn alle politischen Weichen nur auf militärisches Handeln gestellt werden. Es ist ungut, wenn die Frage, wann und wie ein Ausweg aus dem Kriegsgeschehen gefunden werden kann als Randfrage abgetan wird.

Es ist schade, wenn eine so seriöse Friedensinitiative wie die des Historikers Peter Brandt belächelt wird, weil sie feststellt, dass „der Schatten eines Atomkriegs“ über Europa liegt. Brandt fordert, „alles für einen schnellen Waffenstillstand zu tun, den russischen Angriffskrieg zu stoppen und den Weg zu Verhandlungen zu finden“. Das entspricht dem Friedensgebot, das in der Präambel des Grundgesetzes steht. Peter Brandt zitiert dazu einen schönen Satz seines Vaters Willy: „Es gilt sich gegen den Strom zu stellen, wenn dieser wieder einmal ein falsches Bett zu graben versucht.“

Es ist fatal, wenn Wörter wie „Kompromiss“, „Waffenstillstand“ und „Friedensverhandlungen“ als Sympathiekundgebungen für Putin gelten und so ausgesprochen werden, als wären sie vergiftet.

Nach der Friedensdemonstration gestern am Brandenburger Tor wird davon geredet, dass dort „die üblichen Verdächtigen“ aufgetreten seien. Warum sollen sie „verdächtig“ sein – im Gegensatz zu denen, die einen Mentalitätswechsel hin zur Kriegstüchtigkeit in Deutschland fordern? Wenn die Herstellung von Verteidigungstüchtigkeit nicht mehr reicht, sondern Kriegstüchtigkeit hergestellt werden soll – dann muss wirklich eine neue, große Friedensbewegung wachsen.
SZPlus Prantls Blick
Die weißen Tauben sind müde
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Ich wünsche Ihnen einen schönen Winteranfang. Und ich wünsche uns, dass es bald auch wieder warm wird in Europa.
Heribert Prantl
Kolumnist und Autor der Süddeutschen Zeitung
SZ Mail
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Prantls Leseempfehlungen
100 Seiten Demokratie
Die Demokratie passt nicht in eine Kiste, auch wenn diese Kiste eine Wahlurne ist. Sie passt auch nicht auf hundert Seiten; gleichwohl ist es lohnend, sich diese 100 Seiten zu gönnen. Auf der Hälfte dieser Seiten gibt der Autor Alexander Görlach einen Überblick über die Demokratiegeschichte, die uns vom griechischen Marktplatz bis zum Hauptquartier der Vereinten Nationen in New York führt.

„Nein, die Griechen haben die Demokratie nicht erfunden“, heißt es auf dem Buchdeckel. Denn die Sklaven, die Frauen und das gemeine Volk hatten keine demokratischen Rechte, sondern nur die „Besten“, die „Exzellenten“, nämlich die männlichen Vorsteher bestimmter Familien. Der Autor beschreibt in wenigen Sätzen, dass die antiken Staatswesen eine Ordnung und Rechte garantierten, zu der jene Barbaren, die draußen vor den Toren waren, nicht gehörten. Man trifft in dem Buch auf Platon und Aristoteles, auf Konfuzius und Cicero, auf Erasmus von Rotterdam, Jean-Jacques Rousseau, Hugo Grotius, John Locke und Thomas Jefferson.

Um Demokratie muss gerungen werden; die Errungenschaften heißen Verfassung. Demokratie braucht den lernenden, den solidarischen und empathischen Menschen. Und sie braucht Menschen, die sich einnehmen lassen von diesen Werten und die sich auf den Diskurs und die Argumentation einlassen. Görlach beschreibt, wie Ressentiments entstehen und das „Wir gegen die“. In seinen Überlegungen zum Sündenbock ist der Theologe erkennbar.

Görlach verweist darauf, dass der Ressourcenmangel und die Befürchtung, dass sich die eigene wirtschaftliche Situation verschlechtert, häufiger Ressentiments antreibt, als dies kulturelle und religiöse Unterschiede tun.  An anderer Stelle entlarvt er demokratische Fassaden und Schwindeleien mit der schlichten Frage: Können die Bürger wählen, wen sie wollen; lieben, wen sie wollen; glauben, an wen sie wollen? Eine Demokratie sucht auf der Basis ihrer Verfassungswerte gemeinsam und mutig nach einer guten Zukunft – schreibt Görlach. Da hat er recht.

Alexander Görlach: Demokratie. Das Büchlein ist 2021 erschienen bei Reclam (Reihe 100 Seiten). Es kostet zehn Euro.
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Von den Mächtigen verfolgt
Die deutsche Demokratie kennt ihre Mütter und Väter, sie kennt ihre Großeltern und Urgroßeltern kaum. Vielleicht ist das so, weil Adolf Hitlers Visage so geschichtsmächtig ist. Vielleicht ist das so, weil die NS-Verbrechen wie braun-schwarze Löcher funktionieren, die die demokratischen Frühgeschichten verschlucken. Carl Schurz, Robert Blum, Friedrich Hecker & Co: Bei diesen Namen klingelt immer noch wenig im kollektiven Gedächtnis. Auch nach den Feierlichkeiten zum 175. Jubiläum der bürgerlichen Revolution ist das noch so.

Wer kennt die Freiheitsarmee namens „Deutsche Demokratische Legion“? Wer kennt noch das Traumpaar der deutschen Revolution und ihre Abenteuer? Deshalb ist es gut, dass Cord Aschenbrenner in der SZ-Wochenendausgabe an die Revolutionäre Emma und Georg Herwegh erinnert. Ihr bewegtes Leben, so schreibt er, sei „symptomatisch für Größe und Scheitern der deutschen Freiheitsbewegungen“.  Auf dem gemeinsamen Grabstein der Herweghs im Schweizer Liestal steht die Inschrift: „Von den Mächtigen verfolgt, Von den Knechten gehasst, Von den Meisten verkannt, Von den Seinen geliebt.“ Man muss heute dazuschreiben: Von der Nachwelt vergessen. Cord Aschenbrenner schreibt dagegen an.
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