Liebe/r Leser/in, als Bruder einer evangelischen Theologin, Neffe eines katholischen Pfarrers und Schwager eines Pastors der anglikanischen Kirche versuche ich eigentlich, biblische Bezüge dem Rest der Familie zu überlassen. Gott weiß, dort sind sie in besseren Händen. Aber in be sonders drastischen Fällen darf man das große Besteck schon mal auspacken. Die „Flutkatastrophe von historischem Ausmaß“ (Kanzlerkandidat Armin Laschet) ist erst gut zwei Wochen her. Und doch liegt eine grausame Gewissheit in der Natur von Katastrophen: Es wird nicht die letzte gewesen sein. Die Leopoldina attestiert 1,2 Grad Celsius globale Erwärmung und 2,0 Grad Celsius Erwärmung in Deutschland seit 1880 bereits für das Jahr 2020. Bloß Bäume zu umarmen und Bienen zu retten wird nicht mehr ausreichen, um den Klimawandel mit all seinen Spielarten des Extremwetters zu stoppen – nicht einmal im Garten Söders. Wieder besuchten die Politikerinnen und Politiker die Flutgebiete, waren mehr (Merkel) oder sehr viel weniger (Laschet) angefasst. Wieder ist die Rede von einem Weckruf. Selbstverständlich war auch Annalena Baerbock vor Ort. Doch anstatt sich nach der Flutkatastrophe auf ihre Kernkompetenz zu verlassen und sich von den Nickeligkeiten des Wahlkampfs freizuschwimmen, unterläuft ausgerechnet der grünen Kanzlerkandidatin der nächste Fehler. Dieses Mal geht es um die Verwendung eines rassistischen Begriffs. Man sollte zwar meinen, der Klimawandel sei durchaus brisanter als eine toxische Wortwahl, Nebeneinkünfte, gestohlene Zeilen oder ein optimierter Lebenslauf. Aber es ist eben Wahlkampf. Nur: Dem Klimawandel ist egal, wer Merkels Nachfolge antritt. Sicher ist: Auf die nächste Regierung wartet eine Herkulesaufgabe. „Try Everything“, forderte die „New York Times“ auf der Titelseite ihres Magazins vor einigen Wochen – „Try Everything“ erwarte ich auch von der nächsten Bundesregierung. Und ich möchte dem „Versucht alles!“ noch ein „Versucht endlich alles!“ hinterherrufen. Wie bei den Hausaufgaben der Tochter gilt im Klimaschutz: Nichts ist so falsch, wie nichts zu machen. Denn auch in Berlin sind in 16 Jahren Merkel zu viele Dinge sträflich lange liegen geblieben. Deutschland braucht dringend ein zeitgemäßes Narrativ, eine gemeinsame Erzählung, wie in diesem Land eine postfossile Klima-, Wirtschafts- und Wohlstandspolitik gelingen kann. Sollte es tatsächlich zu einer schwarz-grünen, grün-schwarzen oder schwarz-grün-gelben Regierung kommen, kann das bürgerliche Deutschland nicht nur dieses Narrativ gemeinsam begründen, es bekommt auch die zweite Chance, wieder zu sich selbst zu finden. Echte Konservative waren im Kern immer schon grün, behauptete der britische Krawallkonservative Roger Scruton bereits 2011 in einer Streitschrift. Dasselbe gilt auch für die andere Seite: Selbst der härteste Öko ist im Herzen im ureigenen Sinne des Wortes konservativ. Dialektisch betrachtet führt an schwarz-grün-grün-schwarz kein Weg vorbei. Für Herrn Lindner und Gleichdenkende sei ergänzt: Wer 2021 tatsächlich noch Standesdünkel beim Wort Umweltschutz empfindet, kann getrost das Wort Heimatschutz verwenden. Am Ende geht es nicht nur um eine abstrakte Biosphäre, sondern um Flüsse und Seen, um Berge und Meere, um Luft und Wälder. Um unsere Heimat, um die Schöpfung, um Oikophilie. Dieses Verständnis von grün kann man getrost mitgehen, ganz ohne Gefahr zu laufen, Identitätspolitik und Cancel Culture deshalb gut finden zu müssen. Wie gut der Remix des neuen Ökokonservativen in der Praxis tatsächlich funktionieren kann, erlebt man in meiner Heimat, in Stuttgart. Dort regiert sehr erfolgreich in dritter Amtszeit Winfried Kretschmann, neben Reinhold Messner und Prinz Charles für mich der ideale Posterboy des nachhaltigen Konservativismus. Dass gute Klimapolitik schlechte Wirtschaftspolitik bedeutet, ist volkswirtschaftlich und mittelfristig betrachtet grober Unsinn. Zwischen Hochschwarzwald und Schwäbischer Alb funktioniert die Vereinigung von Ökonomie und Ökologie derart gut, warum sollte das nicht in ganz Deutschländle klappen? Man muss von Glück sprechen, dass die Wirtschaft nicht nur in Fragen der Erkenntnis sehr viel weiter als die Berliner Politik ist. Herbert Diess hat erst VW und dann die Börse elektrisiert, Christian Sewing der Deutschen Bank Nachhaltigkeit verordnet, und die schwäbischen Käpsele und Ingenieure tüfteln bereits fleißig an der Weltmarktführerschaft in vielen Bereichen der Greentech. Das nächste Wirtschaftswunder made in Germany wird ein grünes werden. Dafür bedarf es vier Zutaten: Mut, Zuversicht, Neugierde und Entschlossenheit. Einer neuen Zukunftslust also. So können die Zwanzigzwanziger für dieses Land tatsächlich ein Jahrzehnt des Fortschritts werden. Es liegt an uns, ob das gelingt! |