Kurt Kister gibt Einblick in deutsche Alltagsmomente
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10. März 2023
Deutscher Alltag
Guten Tag,
manchmal steckt in einem Satz eine ganze Welt. Der dänische Philosoph Søren Kierkegaard hat mal geschrieben, dass man das Leben nur rückwärts verstehen könne, es aber vorwärts leben müsse. Das ist die reine Wahrheit, wie sich an zahllosen Exempeln zeigen lässt. Heute zum Beispiel versteht man, dass Putin schon immer ein Schuft war, was man damals nicht so recht checkte, weswegen Schröder, Merkel, Steinmeier et al. so lange vorwärts gut mit Gospodin Wladimir lebten. Oder, viel banaler, heute weiß man, dass die drei samtenen Monate der Verliebtheit der Beginn jener Heute-musst-du-die-Kinder-abholen-Unbill waren, der man, könnte man denn rückwärts leben, entweichen würde, weil man, vorwärts gedacht, kaum verstehen kann, wie das alles weitergehen soll.

Auch für das Verständnis der Ampelkoalition ist Kierkegaard nützlich. Wenn man bedenkt – „rückwärts verstehen“ – , dass damals keine andere Koalition ging, dann bleibt eben heute nichts anderes übrig, als mit Baerbock, Wissing und Faeser vorwärts zu leben. Außerdem kann man das auch positiv sehen, was wiederum mit einem Satz des in Phasen auch schwermütigen Kierkegaard zu belegen ist: „Es gehört Mut dazu, sich so zeigen zu wollen, wie man in Wahrheit ist.“ In diesem Sinne sind fast alle Protagonistinnen und Protagonisten der Ampel wenigstens mutig.

Der mutigste Protagonist ist natürlich Olaf, der Bundeskanzler. Er hat nie versucht, sich anders zu zeigen, als er in Wahrheit ist, es sei denn, er konnte sich gerade mal an die Wahrheit nicht erinnern, was aber in den besten Familien vorkommt. Scholz ist ganz überwiegend ein redlicher Mann, vor allem wenn man ihn mit seinen Widersachern Söder und Merz vergleicht. Zwar sagt Kierkegaard: „Alle Not kommt vom Vergleichen.“ Diesen Satz würde er aber heute wahrscheinlich modifizieren, sobald er Markus Söder mal kennengelernt hätte.

Auch Olaf Scholz hat dieser Tage einen Satz gesagt, in dem eine ganze Welt steckt. Er tat dies nach der Kabinettsklausur in Meseberg, um den Zustand der Koalition zu beschreiben. Scholz also sprach: „Das, was hier stattgefunden hat, ist ein sehr fühlbares Unterhaken und auch die gemeinsame Überzeugung, dass das gelingen wird.“ Man könnte, wollte man denn antworten, wiederum auf Kierkegaard zurückgreifen: „Der Glaube ist das Gegenteil des Zweifels.“

Oder man besieht sich die Einzelteile des Scholz’schen Diktums. Der Satz zerfällt in zwei Hälften, die sich in gewisser Weise sprachlogisch widersprechen. Im ersten Teil beschreibt Scholz das Ergebnis eines sich über zwei Tage erstreckenden Prozesses, nämlich die Gespräche bei der Meseberger Klausur, mit einer scholztypischen Metapher: „ein sehr fühlbares Unterhaken“. Nun fühlt grundsätzlich jeder Mensch, bei dem sich ein anderer unterhakt, dass sich jemand untergehakt hat. Man muss eigentlich nicht extra sagen, dass das Unterhaken fühlbar ist. Soziophoben oder Berührungseskapisten allerdings mag das plötzliche Aufscheinen eines anderen Arms („huch, ein Arm“) am eigenen Körper so ungewohnt sein, dass sie vielleicht von einem „fühlbaren“, in berührungseskapistischen Extremfällen von einem „sehr fühlbaren“ Unterhaken sprechen.

Wer sich übrigens näher mit dem substantivierten Verb „Unterhaken“ befasst, kann dabei auch auf den Kuhschwanzhalter-Unterhaken stoßen. Das ist ein gebogenes Metallteil, das es für bereits 50 Cent bei einschlägigen Tierhaltungsfirmen zu kaufen gibt. Es fällt unter die Kategorie „Bändigungsgeräte“, und dient dazu, den Schwanz der Kuh bei veterinärmedizinischen Untersuchungen oder auch beim Melken so auf Distanz zu halten, dass er Tierarzt, Bauer oder sonst wen nicht stört. Koalitionstechnisch gesehen wäre ein solcher Unterhaken, gäbe es ihn auch als Kabinettsbändigungsgerät, manchmal nützlich.

Scholz also diagnostizierte befriedigt ein angeblich stattgefunden habendes Unterhaken, womit er möglicherweise ein neues Gemeinschaftsgefühl in der Koalition umschreiben wollte. Dann aber sagte er weiter, es habe auch die gemeinsame Überzeugung stattgefunden, dass „das gelingen wird“. Leider ist „stattgefunden haben“ die einzige verbähnliche Lautäußerung in diesem Satz. Also muss auch die Überzeugung stattgefunden haben. Das deutet darauf hin, dass jemand andere von etwas überzeugt hat, sei es argumentativ oder mit nicht näher bekanntem Bändigungsgerät. Wollte man dagegen – als normaler Mensch und nicht als Kanzler – ausdrücken, es habe sich eine gemeinsame Überzeugung im Laufe der Gespräche entwickelt, würde man das auch so sagen.

Besonders prekär allerdings ist, dass man nicht so recht weiß, worauf sich das Gelingen eigentlich bezieht. Das Nächstliegende ist dabei das „sehr fühlbare Unterhaken“, denn das steht ja im Satzteil zuvor. Wenn aber das Unterhaken noch nicht gelungen ist, weil es ja im zweiten Satzteil heißt, dass „das“ erst gelingen wird, kann das Unterhaken auch noch nicht „sehr fühlbar“ sein. Quod erat demonstrandum.

Was also mag der Kanzler in Meseberg gespürt haben? Vielleicht doch einen veterinärmedizinischen Unterhaken der FDP? Oder war es einfach nur die habituelle Ich-drück-dich-mal-Attitüde von Robert? Oder spürte Scholz etwas in seinem Kopf, was noch nicht am Arm angekommen war? Kierkegaard jedenfalls sagt: „Alles, was dir begegnen wird, ist leider nicht zu vermeiden.“
Kurt Kister
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