| Sollte der Newsletter nicht korrekt angezeigt werden, klicken Sie bitte hier |
| | | | | Guten Tag, es gibt Themen, die stehen schon so lang auf der Tagesordnung, dass man sich darüber wundert, dass sie immer noch dastehen. Weil sie schon so lang dastehen, werden sie kaum noch zur Kenntnis genommen. Das Thema Kinderrechte im Grundgesetz gehört dazu. Darüber wird nun seit fast dreißig Jahren diskutiert; passiert ist – fast nichts. Der Tierschutz steht längst in der Verfassung, der Kinderschutz noch immer nicht. Es gibt einen unzureichenden Gesetzentwurf der Bundesjustizministerin; das ist alles; das ist das Ergebnis von dreißig Jahren Diskussion. "Angemessen" oder "vorrangig"? "Bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, ist das Wohl des Kindes vorrangig zu berücksichtigen": So müsste das Kindergrundrecht lauten – angelehnt an die Formulierung der UN-Kinderkonvention. In der Formulierung der Bundesjustizministerin heißt es kleinmütig, das Kindeswohl sei bei allem staatlichen Handeln "angemessen" zu berücksichtigen. Das ist ein Muster ohne Wert. Nicht "angemessen", sondern "vorrangig" muss das Kindeswohl berücksichtigt werden. Also: "Bei allen staatlichen Maßnahmen muss das Kindeswohl vorrangig berücksichtigt werden". Wenn das so ist und wenn es dieses starke Kindergrundrecht in der Corona-Zeit schon gegeben hätte – hätte die Politik dann den Kindern so viele Türen so schnell und so lang zusperren dürfen: die Türen der Kindertagestätten, der Schulen? Hätten die Spielplätze und die Sportplätze geschlossen werden dürfen - und auch noch die Türen der Familienwohnungen? Hätte es für Kinder die rigorosen Kontaktsperren geben dürfen? Hätte es sein dürfen, dass auch die Kinder, die in prekären Verhältnissen leben, deren Zuhause also schon in normalen Zeiten ein schwieriges Zuhause ist, in diesem Zuhause rund um die Uhr festgehalten werden? Verheerende Auswirkungen Wird man später von einer "Generation Corona" reden, von einer Generation, die durch die Maßnahmen gegen Corona geschädigt wurde? Holger Münch, der Präsident des Bundeskriminalamts, ist besorgt über die Lage von potenziell gefährdeten Kindern während der Pandemie. Bei der Präsentation der Kriminalstatistik sagte er zwar, dass derzeit bei der Polizei noch nicht mehr Hinweise auf Gewalt und Missbrauch in den Familien eingehen als sonst. Diese Daten seien aber mit äußerster Vorsicht zu genießen, das Dunkelfeld sei groß und die soziale Kontrolle sei schwach – weil den Kindern der Kontakt mit Lehrern und Erziehern fehle. Marcus Weinberg, der familienpolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion meint: "Die Auswirkungen sind teilweise verheerend und werden langfristig wirken, insbesondere, wenn es um die Folgen von Gewalt gegen Kinder und Kindesmissbrauch geht. Auch die lange soziale Isolation könnte bei einigen Kindern Spuren hinterlassen haben." Das Corona-Abi Wird es einmal ein Makel sein, das Abi 2020 gemacht zu haben, wird es das "Corona-Abi" sein? Es hat im Moment den Ruch, mit allzu viel Großzügigkeit verliehen zu werden; das stimmt nicht, denn der Abschluss wird zum großen Teil von den Leistungen der vorausgegangenen Jahre bestimmt. Diejenigen, die jetzt die Schulen verlassen, leiden darunter, dass sie nicht feiern können und ein vermeintlich zweitklassiges Zeugnis haben. In vielen Abituransprachen wird wohl davon geredet werden, worauf die "Generation Corona" alles verzichten muss. Vielleicht sollte man den jungen Leuten nicht nur Mitleid entgegenbringen, sondern ihnen auch sagen: "Ihr habt jetzt was übers und fürs Leben gelernt, was andere erst später lernen. Ihr könnt was draus machen." Kinder haften für ihre Eltern Die allermeisten Schulen und Kindergärten laufen immer noch im Minimalbetrieb oder werden wieder ganz geschlossen, sobald Erwachsene in der Nachbarschaft das Virus verbreiten. Dabei sind die Corona-Ausbrüche der vergangenen Wochen nicht von Kindern ausgegangen, sondern von Erwachsenen. Der SZ-Kollege Hanno Charisius hat bitter kommentiert: "Kinder müssen nur dafür büßen." Als es den Corona-Ausbruch in einer riesigen Fleischfabrik im Landkreis Gütersloh gab, als hunderte Virustests positiv ausfielen, als tausende Menschen in Quarantäne kamen – was tat der zuständige Landrat? Er ordnete die Schließung aller Schulen und Kindergärten im Kreis an. Begründung: Dies sei besser als ein Lockdown und ein gutes Mittel gegen die Ausbreitung des Virus. "Das ist Unsinn", kommentierte der Wissenschaftskollege Charisius. Gewiss seien Schulen und Kindergärten Stätten des Austausches für Krankheitskeime aller Art – aber dagegen brauche es andere Maßnahmen als die Zusperrerei von Schulen. Die Kultusminister haben soeben angekündigt, dass der Regelbetrieb an allen Schulen nach den Sommerferien wieder aufgenommen werden soll.
|
|
| | | Ein Schild an einer Schule im Kreis Heinsberg |
|
| | Am Ende der Kräfte Die Schulen wurden schnell zugemacht und sie blieben lange geschlossen. Und ihre schnelle Schließung bei neuen Infektionen gilt immer als probate Maßnahme. Martin Löwe, der Vorsitzende des Bayerischen Elternverband klagt: Es sei nicht nachvollziehbar, dass Biergärten und Fitnesscenter öffnen, "aber unsere Kinder nicht in die Schule dürfen. Wir sind am Ende unserer Kräfte." Löwe konstatiert einen großen Leidensdruck auf Seiten der Eltern. Der Kollege Charisius fügt an: "Schlägt das Virus zu, trifft es letztlich die Kleinen. Nicht weil es besonders viel bringen würde, Schulen und Kindergärten zu schließen, sondern weil es so einfach ist. Und die betroffenen Familien sind längst viel zu erschöpft, um sich noch zu wehren." Eine Art Leckerli Der Kinderbonus von 300 Euro, den die Koalition im Konjunkturpaket versprochen hat, ist nur eine Art Leckerli. Satt und stark werden die Familien davon nicht. Satter und stärker würden sie durch langfristige Maßnahmen – zum Beispiel dann, wenn das Ehegattensplitting im Steuerrecht durch ein Familiensplitting, auch Kindersplitting genannt, ersetzt würde. Für den Steuertarif ist es derzeit egal, ob die Ehegatten vier Kinder haben oder keines. Es zählt die Ehe und sonst nichts. Das Steuerrecht ist hinter der Rechtsentwicklung zurückgeblieben. Im Familienrecht ist die Ehefixiertheit seit langem zu Ende. Dreh-und Angelpunkt, etwa für Unterhaltsansprüche, ist dort das Kind, nicht mehr die Ehe. Der Stellenwert der Ehe hat abgenommen, der Stellenwert der Kinder hat zugenommen. Der Fliegende Holländer Das ist kein Werteverlust, das ist eine Werteverlagerung. Familie definiert sich nicht mehr über die Ehe, sondern über Kinder. Kinder sind schutzbedürftig; und sie sind förderungswürdiger als kinderlose Paare. Deshalb ist es höchste Zeit für ein Kindersplitting im Steuerrecht; deshalb ist es höchste Zeit für ein Kindergrundrecht in der Verfassung. Dem Kindersplitting und dem Kindergrundrecht darf es nicht ergehen wie dem Fliegenden Holländer, der immer unterwegs ist, aber nie ans Ziel kommt. Eine Verfassung ist nicht nur eine Ansammlung von juristischen Formulierungen. Sie ist auch so etwas wie eine Liebeserklärung an ein Land und seine Menschen. Wenn das so ist, dann ist wirklich nicht einzusehen, warum in dieser Liebeserklärung ausgerechnet die Kinder nicht vorkommen sollen. Und die Liebe zeigt sich nicht darin, dass die Politik bei grassierenden Infektionen zu allererst die Schulen und die Kindergärten zusperrt. Dass beim großen Lockdown im März, als man über das Virus noch wenig wusste, alles betroffen war, muss man vielleicht jetzt nicht mehr kritisieren. Aber auf der jetzigen Wissensbasis erscheint es nicht verhältnismäßig die Schulen zu schließen. Das widerspricht den Rechten der Kinder und der Jugendlichen, das widerspricht dem U-18-Grundrecht. Eine schöne Sommerwoche, trotz alledem, wünscht Ihnen Ihr Heribert Prantl Autor und Kolumnist der Süddeutschen Zeitung |
|
| | | | | | | Willentliche Selbstbeunruhigung | | ist das Ziel des historischen Lernens. Wie das geht – davon handelt das Lebenswerk des Historikers und Geschichtsdidaktikers Volkhard Knigge. Knigge war von 1994 bis zum April 2020 Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora. Wer wissen will, wie 75 Jahre nach dem Ende des NS-Staates die Gedenkkultur der Zukunft aussehen sollte, der kommt an Knigge nicht vorbei. Die meisten Zeitzeugen, die Überlebenden der Konzentrationslager, sind tot. Knigge hat sich stets dagegen gewandt, Geschichte auf Erinnerung zu reduzieren und das historische Lernen als Nacherzählen der Erzählungen von Zeitzeugen zu banalisieren. "Warum Erinnerung allein in eine Sackgasse für historische Bildung führen muss" ist deshalb der Titel eines der 48 Texte, mit denen sein Schüler Axel Doßmann das Lebenswerk von Volkhard Knigge vorstellt: Es handelt sich um Reden, Aufsätze, Interventionen und Interviews zum Geschichtsbewusstsein. Knigge hält es mit dem französischen Historiker Jacques Le Goff – der die Aufgabe des Geschichtswissenschaftlers wie folgt beschrieben hat: "Der Historiker ist dazu da, um über dies Erinnern und Vergessen Rechenschaft abzulegen, um es in denkbaren Stoff umzuwandeln, um es zu einem Gegenstand des Wissens zu machen." Das macht Knigge in brillanter Weise. Der Klappentext des Buches trifft zu: Knigge hat den öffentlichen Umgang mit den NS-Verbrechen in der Bundesrepublik seit über 25 Jahren "maßgeblich geprägt, konturiert und begründet". Man findet nirgendwo eine bessere Abrechnung mit den AfD-Politikern Alexander Gauland ("Hitler und die Nazis sind nur ein Vogelschiss in über 1000 Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte") und Björn Höcke (der eine "erinnerungspolitische Wende um 180 Grad" gefordert hat) als in Interviews, die Knigge gegeben hat: "Es geht nicht um zwölf Jahre deutscher Geschichte, sondern wofür diese zwölf Jahre stehen: für die Zerstörung der Weimarer Republik, die Verfolgung und Ausgrenzung von Millionen anders denkender, anders aussehender und anders liebender Menschen zunächst in Deutschland und dann über seine Grenzen hinweg. Es geht um die Zerstörung Europas, die Millionen Kriegstoten und es geht um die Shoah und den Holocaust – all das ist für Gauland ein Vogelschiss‘." Volkhard Knigge, Geschichte als Verunsicherung. Konzeptionen für ein historisches Begreifen des 20. Jahrhunderts. Das Buch ist 2020 im Göttinger Wallstein Verlag erschienen. Es hat 630 Seiten, kostet 38 Euro – und es ist ein Wegweiser. | |
|
|
| | | | | Was ist ein Hackstockmeister, wo ist der Schnorgackl? | | Lesen Sie dazu die wunderbare und spannende Geschichte von Uwe Ritzer über Solnhofen im Altmühltal – das für seinen besonderen Kalkstein weltberühmt ist. Dort, wo heute unter anderem Solnhofen liegt, erstreckte sich einst ein Urmeer mit Korallenriffen und Lagunen, ein tropisches Paradies. Das versandete, verschlammte, verhärtete, versteinerte und schloss ein, was "sich nicht rechtzeitig aus dem Sumpf befreien und davonmachen könnte: Muscheln, Fische, Echsen, kleine Dinosaurier". Das alles findet man abgebildet im Solnhofer Kalkstein, der in Klöstern, Kirchen und Schlössern verbaut wurde. Das war lange ein gutes Geschäft doch nun ist es vom Niedergang bedroht. Warum? Es gibt seit 2003 billigere, keramische Fliesen, die aussehen wie der berühmte Solnhofer Stein, die natürlich keine Unikate sind, aber schneller, einfacher und günstiger zu verlegen sind. Uwe Ritzer, SZ-Wirtschaftskorrespondent für Nordbayern, schreibt über das langsame Sterben einer ganzen Kultur – und über Ramazan Demirel, dessen Vater als Gastarbeiter aus der Türkei nach Deutschland kam und im Steinbruch landete. Sein Sohn hat vor zehn Jahren zwei Steinbrüche gepachtet und baut dort den Solnhofer Marmor ab; er ist einer der Letzten seines Berufsstandes. Uwe Ritzer setzt ihm und dem Stein ein Denkmal. Uwe Ritzer, Steinwüste. Sie finden die Geschichte im SZ-Wirtschaftsteil vom Samstag/Sonntag, 20./21. Juni. | | |
|
|
| | | Meinung | | Kommentare, Kolumnen, Gastbeiträge und Leserdiskussionen im Überblick | | |
|
---|
|
| | | | | | | | | Entdecken Sie unsere Apps: | | | |
| |
---|
| | | Impressum: Süddeutsche Zeitung GmbH, Hultschiner Straße 8, 81677 München Tel.: +49 89 2183-0, Fax: +49 89 2183 9777 Copyright ©Süddeutsche Zeitung GmbH. Artikel der Süddeutschen Zeitung lizenziert durch DIZ München GmbH. Weitere Lizenzierungen exklusiv über www.diz-muenchen.de Sie erhalten den Newsletter an die E-Mail-Adresse [email protected]. Wenn Sie den „Prantls Blick“-Newsletter nicht mehr erhalten möchten, klicken Sie bitte hier. | Datenschutz | Kontakt | Abmeldung | |
|
|
|