| Es ist die vielleicht kleinste, aber doch wichtigste Hoffnung der Welt: Wann begehrt Russland gegen den Tyrannen Putin auf? Opposition und Zivilgesellschaft sind inzwischen nahezu zerstört worden, mit „Memorial“ wurde gerade erst die größte zivilgesellschaftliche Organisation des Landes verboten. Von Berlin aus arbeitet der Verein, der sich um die Aufarbeitung sowjetischer Verbrechen kümmert und Opfer auch der heutigen Diktatur berät, weiter vom „Haus der Demokratie“ in Prenzlauer Berg aus. Wir haben mit Anke Giesen vom Vorstand von „Memorial“ gesprochen, welche Hoffnung es jetzt noch für Russland geben kann. Frau Giesen, in Russland wurden bereits Tausende wegen der Proteste gegen den Krieg verhaftet. Was droht den Menschen nach einer Festnahme? Manche werden wieder freigelassen, einige kommen für 14 Tage in eine Arrestanstalt. Gegen andere werden Prozesse geführt, dabei drohen längere Haftstrafen. Es ist alles sehr willkürlich. Einige werden rausgegriffen, um andere abzuschrecken. Die Propaganda in Russland ist allgegenwärtig. Nun sollen sogar Kinder in Schulen gelehrt werden, dass der Krieg in der Ukraine gar kein Krieg sei. Wie sehr ist die Wahrheit schon in der russischen Gesellschaft angekommen? Ganz unterschiedlich. Der Teil der russischen Bevölkerung, der sich im Internet informiert oder bisher bei Facebook vernetzt hat, weiß genau, was gespielt wird. Viel Ältere kennen nur das Fernsehen, da herrscht absolute Propaganda. Eines aber sickert langsam durch: In der Ukraine sind vor allem Wehrpflichtige eingesetzt. Sie wähnten sich auf einem Manöver, plötzlich finden sie sich als Aggressoren im Nachbarland wieder. Viele junge Russen sind gefallen, das breitet sich in den Familien aus. Aber es dauert. Glauben Sie, dass die harten Sanktionen und weltweite Isolation von Russland dieMenschen zum Nachdenken bringen? Die Versorgung wird bald sehr schwer werden. Geld wird knapp, kleine Freuden wie eine Pauschalreise in die Türkei werden unerschwinglich. Viele werden das Putin zuschreiben, andere werden sich vom Westen bestraft fühlen. Wegen der Sanktionen dürfte es auf absehbare Zeit nicht zu einem Volksaufstand kommen. Wahrscheinlicher ist ein Aufstand im erweiterten Machtzirkel – wenn die bisherige Elite ihre Chancen und die Zukunft ihrer Kinder schwinden sieht. Viele junge Menschen verlassen Russland, die Opposition ist eingesperrt, die letzten freien Medien werden verboten. Gibt es überhaupt Möglichkeiten, sich noch unabhängig zu engagieren? Man darf mit Schülern noch unverfänglich im Park Blumen pflanzen, mehr nicht. Alles, was nach Partizipation verlangt oder auf Missstände hinweist, etwa in der Umweltpolitik oder der medizinischen Versorgung, ist mit hohen Risiken verbunden. Das Fenster für Zivilgesellschaft wird immer enger. Im Krieg schließt es sich ganz. Auch Ihre Organisation „Memorial“ wurde verboten. Welche Kontakte haben Sie noch nach Moskau? Bisher ist unser internationaler Dachverband und unser Menschenrechtszentrum verboten worden. Es existieren noch 60 örtliche Organisationen. Aber unsere Finanzierung ist völlig unklar. Wenn wir Spenden aus dem Ausland annehmen, könnten wir wieder als Agenten verurteilt werden. Wir versuchen also, Zeit zu schinden und schnell unsere Archive zu digitalisieren. Solange unsere Mitarbeiter nicht gefährdet werden, tun wir das, was noch geht. "Memorial" arbeitet in Berlin weiter. Woraus besteht Ihre Arbeit gerade? Aktuell unterstützen wir die Gruppe von Memorial Charkiw, die auf der Flucht vor den Bomben ist. In Deutschland pflegen wir die Geschichte von Opfern der Sowjetunion, bringen Gedenktafeln an Häusern von Verschleppten an. Wir sind auch Auffangbecken für junge Russen, die jetzt nach Berlin kommen. Diese europäisch geprägte Generation war meine Hoffnung für Russland, nun flieht sie. Gibt es noch Hoffnung für Russland? Zurzeit kommen alle schlechten Seiten der russischen Geschichte zum Vorschein: die Rhetorik der Sowjetunion, der Kolonialanspruch des 19. Jahrhunderts, die Gewalt von Iwan, dem Schrecklichen. Aber die Geschichte zeigt: Ewig existieren Kolonialstaaten nie. Die Frage wird sein, wie lange Russlands Niedergang dauert, wie viele Menschen darunter leiden müssen. Aber der Niedergang hat schon begonnen. | |