Kurt Kister gibt Einblick in deutsche Alltagsmomente
 ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ 
szmtagiomb_np
Zur optimalen Darstellung empfehlen wir Ihnen die Browserversion
21. Juni 2024
Deutscher Alltag
Guten Tag,
es gibt Menschen, darunter viele Frauen, die glauben, dass Frauen die besseren Menschen sind. Schaut man sich Männer in der eigenen Bekanntschaft oder weit darüber hinaus an, spricht vieles für diese These, zumal dann, wenn man, natürlich völlig subjektive, direkte Vergleiche anstellt. Michelle Obama zum Beispiel ist eindeutig ein besserer Mensch als Donald Trump, Taylor Swift überragt Andreas Gabalier moralisch-ästhetisch um Längen, und Marlene Engelhorn möchte man lieber bei einem Abendessen dabeihaben als Theo Müller. (Für Fußballfans: Engelhorn ist die österreichische Millionenerbin, die Geld verschenkt; Müller ist der Milch-Mogul, der sich privat mit Alice Weidel trifft, die möglicherweise jene Ausnahme ist, welche die Frauen-sind-die-besseren-Menschen-Regel bestätigt.)

Im Moment liegt auf der Bessere-Menschen-Skala Malu Dreyer vorne. Die Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz war schon lange auf dieser Skala weit oben, weil sie nicht nur in der Politikerschaft eine Ausnahme ist, sondern auch noch als führende Vertreterin einer gerade in der SPD seltenen Spezies gilt, nämlich des homo politicus noneskeniensis: eine unideologische, erfolgreiche und bei der Wählerschaft enorm beliebte SPD-Politikerin. Jetzt hat sie auch noch jenes Kunststück geschafft, das im Zirkus der politischen Aufmerksamkeit als so schwierig gilt wie ein Salto auf einem eingeseiften Hochseil: einen guten Rücktritt.

Gewiss doch, bei ihrer Rücktrittsankündigung spielt einerseits ihre chronische Erkrankung eine wichtige Rolle. Andererseits will sie ihrem Nachfolger Alexander Schweitzer, ein zwei Meter messendes, blass beschriebenes Blatt, die Möglichkeit geben, rechtzeitig vor der nächsten Landtagswahl bekannt und beliebt zu werden. Bekannt wird Schweitzer werden, dreyermäßig beliebt eher nicht. Zu seinem Glück ist die dortige CDU eine Ansammlung zerstrittener Weinköniginnen m/w/d.

Kaum etwas wird unter jenen, die gerne über andere reden, so hoch geschätzt wie ein rechtzeitiger, freiwilliger Rücktritt. Es mag sein, dass diese – eigentlich müsste man jedes Mal bei der Verwendung des Wortes „Wertschätzung“ und seiner Abarten fünf Euro ins Phrasenschwein zahlen – Wertschätzung auch daher rührt, dass die meisten derer, die den Rücktritt „wertschätzen“, ihn selbst scheuen. Dass Menschen, auch Frauen, die eine gewisse Position erreicht haben, diese meist nur unfreiwillig wieder verlassen, ist nahezu ein Naturgesetz.

Der Frustrücktritt (Wulff, Köhler, Nahles etc.) zählt dabei nicht als „guter“ Rücktritt. Er ist in vielen Fällen ein Rücktritt gewordener Stinkefinger, nach dem Motto: Wenn ihr nicht wisst, was ihr an mir habt, dann werde ich euch schon zeigen, was ihr nicht mehr an mir habt. Das funktioniert meistens schlecht, weil es bald nicht mehr auffällt, was man an dem Frustzurückgetretenen gehabt hat. Manchmal kommt es vor, dass man sich angesichts der performance des Nachfolgers, auch der Nachfolgerin, den Frustzurückgetretenen wieder herbeiwünscht. So könnte es bei Horst Köhlers Nachfolger Christian Wulff gewesen sein. Ähnliches gilt für Horst Seehofer und Markus Söder, wobei Seehofer als Ministerpräsident nur halb zurückgetreten ist, weil er 2018 in die Bundesregierung wechselte, was praktisch ein Rücktritt nach vorne war. Leider wird „vorne“ immer wieder mal zu hinten oder draußen.

Beim guten Rücktritt aber überwiegt zunächst einmal das Gefühl, wie schade es ist, dass die Frau oder der Mann (auch gegenüber Männern gibt es gute Gefühle) bald nicht mehr da ist. Man würde ihn/sie gerne länger „behalten“ und findet deswegen den Entschluss, zu gehen, nahezu nobel. Da muss jemand nicht, sondern jemand will. Der oft gehörte Satz in diesem Zusammenhang lautet: „Das kann ich gut nachvollziehen.“ Am besten „nachvollziehen“ können es jene, die der oder dem Zurückgetretenen oft auf die Nerven gegangen sind, die Das-geht-so-nicht-Sager, die Besserwisser und Schnellbeleidigten. Von denen bekommt man dann zum vermeintlichen Abschied auch noch gerne den schönen Satz gesagt: „Wir waren ja nicht immer einer Meinung.“ Manchmal, eine sehr subjektive Anmerkung, wünscht man sich, jedenfalls wenn man kein ganz so guter Mensch ist, solche Sätze würden sich im Munde des Sprechenden in einen halbmeterlangen Sandwurm verwandeln. Das könnte man als Scheidender sehr gut nachvollziehen.

Auch weil die frei in der Gesellschaft herumvagabundierende Menge an Missgunst sehr groß ist, gibt es selbst im Falle guter Rücktritte oft böse Erklärungen. Dass jemand wirklich freiwillig den Amts- oder Funktionssessel räumt, wird grundsätzlich erst mal nicht geglaubt, auch weil, siehe oben, so wenige sich zu so einem Schritt bereitfänden, wären sie denn überhaupt in eine Position gelangt, aus der ein freiwilliger Rücktritt auffallen würde. Hinzu kommt, dass bei unfreiwilligen Rücktritten so oft gelogen wird („... hat in gegenseitigem Einvernehmen...“), dass viele annehmen, die Freiwilligkeit sei vorgeschützt.

Es gibt eine gewisse Sehnsucht nach dem guten Rücktritt. Die Amtszeitbegrenzung in vielen Staaten und manchen Firmen ist auch ein Versuch, in einer wenig rücktrittsbereiten Klasse gute Rücktritte zu institutionalisieren. Wenn man selbst der Überzeugung ist: „genug ist genug“, rundherum aber hört: „noch ist es nicht genug“, ist der Zeitpunkt für den guten Rücktritt gekommen. Bei Malu Dreyer war’s ungefähr so.
Kurt Kister
Mail
SZPlus
Aus Ihrer SZ
Wie die Millionen von Marlene Engelhorn verteilt werden
Die Nachfahrin des BASF-Gründers hat viel Geld geerbt, will es aber nicht behalten, sondern an die Gemeinschaft zurückgeben. Dafür hat die Österreicherin einen Bürgerrat eingesetzt – nun liegt das Ergebnis vor.
Zum Artikel Pfeil
Morgen im Stadion
Der besondere Blick der SZ-Sportredaktion auf die Europameisterschaft – freitags als Newsletter.
Kostenlos anmelden
Empfehlung Empfehlen Sie diesen Newsletter weiter
Kontakt Schreiben Sie uns, wenn Sie mögen
Zur Startseite von SZ.de

Zur Übersichtsseite der SZ-Newsletter
Ihre Newsletter verwalten

Entdecken Sie unsere Apps:
as
gp
Folgen Sie uns hier:
tw
ig
fb
in
Impressum: Süddeutsche Zeitung GmbH, Hultschiner Straße 8, 81677 München
Tel.: +49 89 2183-0, Fax: +49 89 2183 9777
Registergericht: AG München HRB 73315
Ust-Ident-Nr.: DE 811158310
Geschäftsführer: Dr. Karl Ulrich, Dr. Christian Wegner
Copyright © Süddeutsche Zeitung GmbH / Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH.
Hinweise zum Copyright
Sie erhalten den Newsletter an die E-Mail-Adresse [email protected].
Wenn Sie den „Deutscher Alltag“-Newsletter nicht mehr erhalten möchten, können Sie sich hier abmelden.
Datenschutz | Kontakt