Heribert Prantl beleuchtet ein Thema, das Politik und Gesellschaft (nicht nur) in dieser Woche beschäftigt.
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4. Februar 2024
Prantls Blick
Die politische Wochenschau
Prof. Dr. Heribert Prantl
Kolumnist und Autor
SZ Mail
Guten Tag,
als ich die Weimarer Republik zum ersten Mal erlebte, war ich 16 Jahre alt. Genauer gesagt: Ich erlebte sie nicht, sie lag einfach da. Die Weimarer Republik lag verlockend auf einem gewaltigen Büchertisch und ich durfte darauf zugreifen. Das kam so: Wenn das Schuljahr zu Ende ging und die Zeugnisnoten feststanden, wurden die Schülerinnen und Schüler mit besonderen Leistungen ins Direktorat unseres kleinen Gymnasiums gerufen. Dort hatte der Direktor einen opulenten Büchertisch gedeckt und sagte nach einem Blick auf den Tisch und in die Notenlisten, wie viele Bücher man sich aussuchen dürfe. Bei mir waren es zwei Taschenbücher und ein Hardcover.

 Ich wählte, des schönen Titels wegen, Brechts Drama "Trommeln in der Nacht". Es ist dies, was ich beim Aussuchen noch nicht wusste, das erste Stück, das die Wirren der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg auf die Bühne brachte. Es spielt im Jahr 1919 und handelt vom Schicksal des Kriegsheimkehrers Andreas Kragler. Als zweites Buch wählte ich, auch von Brecht, den "Baal". Das ist die Hauptfigur eines amoralischen Dramas über einen versoffenen und verfressenen Drecksack, den ich bis dahin nicht gekannt hatte. Ich griff zu ihm, weil da gleich auf der ersten Seite von "Lust und Kummer" die Rede war, was zu meiner damaligen pubertären Befindlichkeit passte.

Das dritte Buch wählte ich ehrlich gesagt vor allem aus, um den Direktor zu beeindrucken. Es war ein dickes Werk, es war Kurt Zentners "Illustrierte Geschichte des Dritten Reiches". Im Schuljahr darauf hatte ich mein erstes großes Referat zu halten, das Thema war "Das Geschichtsbild des Dritten Reiches", dargelegt an Alfred Rosenbergs "Der Mythus des 20. Jahrhunderts". Zentners Buch sperrte mir den Kopf dafür auf. Und so standen die drei Buchgeschenke für die Zeit vom Beginn der Weimarer Republik bis zu ihrem schrecklichen Ende: Trommeln, Baal und Hitler.

Der Mühlstein am Hals der Demokratie

Vor genau 105 Jahren, deswegen diese Erinnerung, begannen die Arbeiten an der Weimarer Verfassung, von der mein heutiger SZ-Text ("Der Geist von Weimar", SZ Plus) handelt. Am 6. Februar 1919 trat in Weimar die Nationalversammlung zusammen und brachte die erste deutsche Demokratie auf den Weg. Die dort geschriebene Weimarer Verfassung war kein Murks, wie oft gesagt wird. Sie war eine bemerkenswert gute Verfassung, aber die Zeiten, in denen sie Geltung hatte, waren bemerkenswert schlecht. Ich frage mich: Wenn das Grundgesetz, dessen fünfundsiebzigstes Jubiläum wir in diesem Jahr feiern, nicht 1949, sondern schon 1919 in Kraft getreten wäre – hätte es die Kraft gehabt, Hitler zu verhindern?

Juristen sprechen gern von einem "Verfassungskörper". Wenn es einen solchen Verfassungskörper gibt, dann hat eine Verfassung auch einen Hals. Am Hals der Weimarer Verfassung hingen zentnerschwere Mühlsteine. Am Hals der bundesdeutschen Demokratie hängt auch ein Mühlstein - und er wird immer schwerer. Er heißt AfD. Das weitere Schicksal der Republik wird auch davon abhängen, ob und wie es ihr gelingt, diesen Mühlstein loszuwerden.

Das ist eine "Weimarer Probe". Nicht nur Deutschland, auch Europa muss, gewürgt von Nationalisten und Extremisten, eine solche Probe noch bestehen. Brüssel darf nach den Europawahlen im Juni nicht das neue Weimar werden. In der Weimarer Verfassung steckte schon die Vision einer solidarischen Bürgergesellschaft. Die Weimarer Republik scheiterte aber dann daran, dass es zu wenige solcher Bürger gab. Das ist heute anders – und die großen Demonstrationen gegen die AfD an so vielen Orten der Republik zeigen das. Das lässt mich hoffen.
SZPlus Prantls Blick
Der Geist von Weimar
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Zu dieser Hoffnung passen die ersten Schneeglöckchen, die jetzt in der Natur zu sehen sind. Ich wünsche mir, ich wünsche Ihnen die Kraft der Hoffnung.
Heribert Prantl
Kolumnist und Autor der Süddeutschen Zeitung
SZ Mail
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Prantls Leseempfehlungen
Ein Vaterbuch
Das Buch von Mely Kiyak ist ein herzzerreißend trauriges, ein herzzerreißend freches und ein herzzerreißend inniges Buch. Es ist ein Buch über die zwei einzigen Themen, über die zu sprechen und zu schreiben sich wirklich lohnt: über Liebe und Tod. Es ist ein Buch, das unendlich weit weg vom Kitsch ist und unendlich nah dran am Leben. Die wunderbare Kollegin Mely Kiyak schreibt über das Sterben ihres Vaters, der ein aus der Türkei stammender kurdischer Eiwanderer und ein fabelhafter Geschichtenerzähler ist. Dieses Talent hat seine Tochter geerbt und es zeigt sich schon auf den ersten fünf Zeilen des Buches: "Mein Vater geht wie eine betrunkene Ballerina. Weder trinkt er, noch kann er tanzen. Er versucht, beim Laufen einfach nicht umzukippen. Sorgfältig setzt er seinen Fuß vor der nächsten und wedelt würdevoll mit den Armen, um sein Gleichgewicht nicht verlieren." Aber er verliert es, er bekommt Krebs. Und seine Tochter Mely macht sein Schicksal zu ihrem. Den anrührenden Roman über seinen Überlebenskampf hat Mely Kiyak erstmals 2013 im S. Fischer Verlag publiziert. Für die soeben erschienene Neuausgabe im Verlag Hanser hat die Autorin das Buch "stark bearbeitet", wie es dort heißt. Ich kenne die alte Ausgabe nicht. Die neue ist ein Buch zum Weinen, zum Lachen und zum Niederknien.

Mely Kiyak: Herr Kiyak dachte, jetzt fängt der schöne Teil des Lebens an. Der Roman, soeben erschienen bei Hanser, hat 222 Seiten und kostet 23 Euro.
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Hand in Hand
Das Wort "Demonstrationsfreiheit" findet sich gar nicht im Grundgesetz. Im einschlägigen Artikel 8 geht es um die Versammlungsfreiheit, die Demonstrationsfreiheit ist eigentlich nur ein Teil davon. Wenn die beiden Wörter gleichgesetzt werden, dann hat das seinen Grund darin, dass Demonstrationen zu einem wichtigen Mittel der Meinungsbildung geworden sind. Vor 175 Jahren begründete der Historiker Theodor Mommsen das damals neue Versammlungsgrundrecht für die Paulskirchen-Verfassung so: "Wie wichtig das freie Versammlungsrecht für die Freiheit ist, weiß ja jedes Kind." Die Deutschen mussten das nach 1945 neu lernen, das Bundesverfassungsgericht hat dabei geholfen. Das Lernen war erfolgreich – wie erfolgreich, das zeigt sich bei den Massenprotesten gegen die AfD und den Rechtsextremismus. "Willkommen in der Protestrepublik" heißt das "Thema der Woche" in der Samstagsausgabe der SZ. Jan Heidtmann schreibt dort sehr kundig darüber, wie und warum Berlin zur Haupt-Demo-Stadt geworden ist. An die 7000 politische Kundgebungen gibt es hier im Jahr.
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