Liebe/r Leser/in, für FOCUS ist der Mittwoch der Tag der Entscheidung. Jede Woche. An diesem Tag muss die Redaktion den größten Teil der jeweils aktuellen FOCUS-Ausgabe fertig haben. Und immer wieder müssen wir mit dem Unerwarteten rechnen. Wie am vergangenen Mittwoch: Um 13.27 Uhr wählte der Thüringer Landtag im dritten Wahlgang den FDP-Politiker Thomas Kem-merich zum Ministerpräsidenten. Der Liberale ließ sich von den Stimmen der AfD und der CDU ins Amt helfen. Damit hatte die AfD, und ausgerechnet der besonders radikale „Flügel“ der Partei unter dem Kommando von Björn Höcke, erstmals über die Bildung einer Regierung in Deutschland mitentschieden. Auch wenn mit dem Rücktritt Kemmerichs der Spuk schon wieder vorbei scheint: Die AfD hat in Thüringen, mit Unterstützung von FDP und CDU, einen Sieg errungen. Für uns in der Redaktion bedeutete das sofort: eine Zeitenwende, das Heft wird umgebaut. Geplante Geschichten flogen raus, Platz musste her für den Polit-Krimi, der das Zeug hat zum Gruselstück für bürgerliche Parteien und insbesondere für die Macher der Regierungs-GroKo. Wie reagiert Berlin? Was passiert in Thüringen? Und welche Ziele verfolgte überhaupt der bis dato eher unbekannte Herr Kemmerich? Meine Kollegen aus dem Politikressort machten sich an die Arbeit. Jeder hatte seinen Auftrag, die Zeit drängte. Wer sich um Thomas Kemmerich kümmerte, war schnell klar – unser Redakteur Daniel Goffart. Der ging einst mit Kemmerich in diesselbe Schule; mit Armin Laschet übrigens auch. Es ist kurios: Einer seiner Mitschüler hat vielleicht das Zeug zum Kanzler, der andere gilt jetzt für viele als Hasardeur und politischer Brandstifter. Bei all dem Entsetzen ist auch viel Heuchelei im Spiel. In Thüringen hat kein Staatsstreich stattgefunden, und Kemmerich ist kein Krypto-Faschist. Er hatte sich wählen lassen und wollte die demokratischen Spielregeln ausreizen. Er hat sie wohl überreizt. Allerdings: Ohne ihn wäre Bodo Ramelow wieder Ministerpräsident geworden, die Linke wäre an der Macht, eine Partei, die auch kein Partner für bürgerliche Parteien ist. Nun bringen die Macht-Tricksereien von Erfurt die Republik zum Beben: Das Kontaktverbot zur AfD ist brüchig geworden. Und es ist fraglich, ob es in Zukunft wieder gilt. Für das jetzige Chaos aber sind nicht nur Politiker in Erfurt verantwortlich. Verantwortlich sind auch die Chefs in den Berliner Parteizentralen. Sie kannten die Situation vor der Landtagswahl, wussten um das Macht-Patt nach der Wahl – und hatten keine Antwort auf die Entscheidung der Wähler. Thüringen zeigt wieder einmal: Wir leben in einer Zeit, in der Gewissheiten und Gewohnheiten erodieren – Wahlergebnisse zum Beispiel, der Lebensjob, die Wohnung fürs Leben, die sichere Rente, der Garantiezins auf die Lebensversicherung. Die Krise der Gewissheiten geht einher mit der Krise der Volksparteien. Zu den Herausforderungen des neuen Jahrhunderts fällt den traditionellen Volksparteien so gut wie nichts ein. In der SPD-Hymne „Wann wir schreiten Seit’an Seit’“ heißt es heute noch: „Mit uns zieht die neue Zeit.“ Nichts könnte falscher und überheblicher sein angesichts der Tatsache, dass allein Apple heute einen höheren Börsenwert aufweist als alle Dax-Konzerne zusammen oder Tesla mehr als BMW und VW zusammen. Die „Financial Times“ zog kürzlich den Schluss, dass Deutschland, die größte Volkswirtschaft Europas, in der Gefahr schwebe, durch den Technologie-Boom des 21. Jahrhunderts abgehängt zu werden. Die Sozialdemokratie, die Linke hat in Zeiten, in denen die Software mehr und mehr die Werkbank ersetzt, ein Zielgruppenproblem, wie es auch der CDU droht. Viele ehemalige Wähler der zwei Volksparteien wissen, dass soziale Sicherheit nur gewährleisten kann, wer eine Idee für diese „neue Zeit“ hat, für die digitale Transformation der Wirtschaft, die unser Leben grundsätzlich verändert. |