Kurt Kister gibt Einblick in deutsche Alltagsmomente
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2. August 2024
Deutscher Alltag
Guten Tag,
es gibt Momente, in denen man merkt, dass die Welt sich an einem vorbei dreht. Nehmen wir zum Beispiel das vergangene Wochenende. In Paris begannen die Olympischen Spiele, in München trat Taylor Swift auf, und außerdem fuhren auch noch ein paar Millionen in die Ferien oder nach den Ferien zurück nach Hause. So drehte sich die Welt. Ich dagegen drehte mich nicht, jedenfalls nicht in dieselbe Richtung wie die Welt.

Das Betrachten von Sportereignissen interessiert mich wenig bis nicht, egal ob es um Cucurellas Handspiel oder um olympisches Surfen vor Tahiti geht. Gerate ich doch mal im öffentlich-rechtlichen Fernsehen, das sich mit Fußball-EM und Olympia in eine Dauerwerbesendung für kommerzialisierte Körperertüchtigung verwandelt hat, in eine solche Übertragung, wundere ich mich mehr über die bisweilen überlautstarke („Toooooor“), gelegentlich gar nicht-postnationale Gebrauchspoesie der Kommentatoren und Innen, als dass mich das schnelle Geschwimme junger Menschen in einem Pool in den Bann ziehen würde. Ich weiß, ich gehöre mit dieser Einstellung einer Minderheit an, aber wenn man ein Dodo ist, kann man nur darauf hoffen, weniger schnell auszusterben.

Der Dodo war ein flugunfähiger Vogel, was in sich schon eine Minderheitsposition ist, es sei denn, man lebt als Pinguin in der Antarktis. Der Dodo lebte nicht in der Antarktis, sondern auf Mauritius, wurde zum letzten Mal 1690 erwähnt, seitdem scheint er seine Stellung als Minderheit mit dem Zustand der Nichtexistenz vertauscht zu haben. (Kann die Nichtexistenz überhaupt ein Zustand sein, würde ich jetzt gerne den Philosophen Hans Blumenberg fragen, der es aber leider 1996 dem Dodo gleichgetan hat.) Der Dodo ist oder war Teil der Welt, die sich aber unter dem Dodo weggedreht hat.

Ähnlich geht es mir mit Taylor Swift. Ich mag viele Arten von Musik und besuche Konzerte von Julia Fischer, Avishai Cohen oder Bonnie „Prince“ Billy. (Letzterer ist deutlich dodohafter als Julia Fischer.) Und selbstverständlich weiß ich, dass das Argument, Taylor Swifts Songs klängen alle ähnlich, kein Argument ist, weil ja auch Leonard Cohens Songs einander ähneln, abgesehen von jener Verirrung, als Cohen sich 1977 für eine Platte mit dem Narrenproduzenten Phil Spector zusammentat. Wäre ich garstig, würde ich sagen, Spector hätte auch zu Taylor Swift gepasst. Ich bin aber nicht mehr garstig. Cohen ist ein Heiliger, und Taylor Swift gilt anderen Menschen ebenfalls als Heilige, allerdings als noch lebende Heilige, was es in der katholischen Kirche nicht gibt. Swift besuchte immerhin einen katholischen Kindergarten, während Leonard Cohen ein jüdischer Buddhist mit christlichen Einsprengseln war. Sehr viele Menschen, darunter enorm viele jüngere Frauen, mögen Swift sehr. Mit ihnen dreht sich gerade die Welt. Mit mir nicht, vielleicht auch weil ich mir sicher bin, keine junge Frau zu sein. Aber, wie Cohen sang, there ain’t no cure for love. Es gibt sicher auch keine Medizin gegen Taylor-Swift-Liebe.

Und schließlich: die Ferien. Wenn ich aufgeklärte, sportinteressierte Taylor-Swift-Medien wie etwa die Süddeutsche Zeitung nutze, lerne ich beim Lesen, dass der Tourist als solcher zwar kein Dodo ist, aber dennoch problematisch. Er verstopft die Straßen, weil er mit dem auch meistens noch Benzin verbrennenden Auto fährt, er verstopft die Städte, weil er das gerne tut, und außerdem ist er nicht der Hellste, weil er immer zur selben Zeit los- beziehungsweise zurückfährt. Der Tourist, manchmal sogar die Touristin, scheint eher ein Ärgernis zu sein, als dass er nur ein Mensch wäre, der für ein paar Wochen einen Zustand relativer Freiheit erleben möchte, bevor er sich wieder in den Prozess des Geldverdienens eingliedert. Der Mensch genießt Wertschätzung, der Tourist nicht.

Als ich jünger war, galten die Ferien als die schönste Jahreszeit. Heute wäre es gut, man schriebe, natürlich unter Beteiligung aller Familienangehörigen und selbstverständlich auf Augenhöhe mit allen, eine To-do-Liste, auf der stünde, was man in den Ferien alles nicht tun sollte, um nicht das Elend auf der Welt noch weiter zu vergrößern. Die Welt dreht sich nicht mit den Touristen, sie spritzt ihnen vielmehr Wasser ins Gesicht, um darauf hinzuweisen, dass sie lieber zu Hause bleiben oder wenigstens nur an einem Dienstag im November mit dem Fahrrad im Zug verreisen sollten. Ich habe gar kein Fahrrad. Wie soll ich mich da mit der schönen neuen Ferienwelt drehen?

Aber muss man sich denn immer mit der Welt drehen? Nein, muss man nicht. Soll die Welt sich doch drehen, wohin sie mag. Oder man macht’s wie der Mond: Der dreht sich zwar immer mit der Welt, also der Erde. Dem Mond aber sind Leichtathletik, Taylor Swift und sogar Touristen egal, vielleicht auch weil man jene zwölf US-Amerikaner, die bisher auf dem Mond waren, nicht unter dem Stichwort Overtourism führen kann. Der Mond ist cool, weil er trotz seiner Abhängigkeit von der Welt dennoch souverän ist. Und sogar Taylor Swift weiß, dass der Mond cooler ist als sie. In einem ihrer neueren Songs („The Prophecy“) singt sie: „A greater woman stays cool / but I howl like a wolf at the moon“. Na also, der Mond dreht sich zwar mit der Erde. Aber er heult sicher nicht zurück.
Kurt Kister
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