Liebe/r Leser/in, mein erster Gedanke war, der Anwalt möge ihn doch bitte reden lassen. Zu schweigen schien mir angesichts des Verdachts, der sich gegen den 14-jährigen Jungen richtet, befremdlich, ja unmoralisch. Mir ist klar, dass der Verteidiger seinen Mandanten am ehesten vor Fehlern bewahrt, wenn dieser möglichst lange zu den Vorwürfen nichts sagt. So kann er sich auch nicht selbst belasten. In diesem Fall aber schien mir eine rein juristische Strategie verwerflich. Der Verdächtige werde auf diese Weise nicht beschützt, sagte ich mir. Er müsse reden, um sich der Wahrheit zu stellen. Und seiner möglichen Schuld. Inzwischen bin ich mir nicht mehr sicher. Ich ertappe mich bei dem Gedanken, vielleicht wäre es besser, der Junge würde auf Dauer schweigen. Sollte er für die Tat verantwortlich sein, was würde er sagen können? Wie würde er ein Geschehen in Worte fassen, das weder schweigend noch redend zu fassen ist? Am Nachmittag des 14. September ist in der mecklenburgischen Gemeinde Pragsdorf, zehn Kilometer östlich von Neubrandenburg, ein sechsjähriger Junge erstochen worden. Das Kind hieß Joel. Ein älterer Junge, mit dem Joel eine Weile allein war, soll ihn umgebracht haben. Es ist der 14-Jährige, der zu den Vorwürfen schweigt. Joel starb in einem kleinen Ort. Was auch immer geschehen ist, die Suche nach Schuld und Verantwortung für dieses Verbrechen findet ihre Antwort nur dort. Die etwa 580 Einwohner von Pragsdorf werden mit der Tat leben müssen. Und die anderen? Sie und ich? Uns trifft keine Schuld. Einige von uns waren vielleicht mal in Neubrandenburg. Nur wenige fuhren jemals auf der Bundesstraße 104 durch Pragsdorf hindurch. Nein, in dem Ort haben wir uns nie aufgehalten. Wir hatten niemals Kontakt mit dem Verdächtigen. Wir kannten Joel nicht. Uns trifft keine Schuld. Doch unsere Schuldlosigkeit rettet uns nicht. Sie ist auch ein Urteil. Dass wir an Joels Tod schuldlos sind, bedeutet auch, dass wir machtlos waren. Wir konnten das Verbrechen nicht kommen sehen. Wir konnten es nicht verhindern. Wir konnten Joel nicht beschützen. Ein sechsjähriges Kind, das darauf vertraute, die anderen da draußen seien genauso arglos wie es selbst. Wir könnten versuchen uns einzureden, dass uns all dies nichts angehe. Der Ort sei uns fremd, die Menschen dort seien uns fremd – und die Tat, so sehr sie uns auch erschüttere, sei uns erst recht fremd. Wir würden uns nicht beruhigen können. Wir wissen, dass uns das Geschehen nicht fremd ist. Kinder werden umgebracht. Und zu jenen, die in der Lage sind, Kindern tödliche Gewalt anzutun, zählen auch Kinder. Derartige Verbrechen geschahen vor Joels Tod. Sie werden wieder geschehen. Die Ermittler sagen, der 14-Jährige sei dringend tatverdächtig. Wenn er denn der Täter ist, wird er irgendwann, womöglich erst vor einem Gericht, Antworten geben. Sein Bericht wird nichts erklären. Er wird das Unbegreifliche nicht begreifbar machen. Wir kennen diese Berichte. Sie handeln vom Bösen. Und davon, wie unscheinbar es ist. Wie schnell und erbarmungslos. Es wird, so befürchte ich, einer von jenen Berichten sein, die uns wissen lassen, dass es wieder passieren kann. Und dass wir dagegen machtlos sind. Ich ertappe mich bei dem Gedanken, der Junge möge auf Dauer schweigen. |