Die Kontaktnachverfolgung ist in vielen Bundesländern in Verordnungen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie enthalten. Im Saarland gilt sie nun als verfassungswidrig. Der Artikel beleuchtet das Urteil und zeigt auf, wieso die Entscheidung auch eine Chance darstellt, die der Gesetzgeber nutzen sollte.
Eilverfahren gegen Regelungen der Corona-Verordnung
Am 28.08.2020 hat der Verfassungsgerichtshof des Saarlandes über die Verfassungsbeschwerde eines Rechtsanwaltes entschieden. Dieser hatte sich mit einem Eilantrag – erfolglos – gegen verschiedene Bestimmungen der saarländischen „Verordnung zur Bekämpfung der Corona-Pandemie“ bzw. der „Verordnung zur Änderung infektionsrechtlicher Verordnungen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie vom 21.08.2020 (CP-VO)“ gewandt. So u.a. gegen die Verpflichtung zum Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung in verschiedenen Situationen („Maskenpflicht“) und die Verpflichtung verschiedener Einrichtungen zur Kontaktnachverfolgung.
Maskenpflicht: Nur eine Unannehmlichkeit
Auf die Maskenpflicht soll hier nicht näher eingegangen werden. Nur so viel: Der Verfassungsgerichtshof wies darauf hin, dass seriöse Wissenschaftler sich weitgehend einig darüber sind, dass eine Mund-Nasen-Bedeckung einen, wenn auch kleinen, aber wirkungsvollen Beitrag zur Eindämmung der Pandemie leisten kann. Die „Maskenpflicht“ verfolge einen legitimen Zweck, sei dazu auch geeignet, erforderlich und angemessen. Zum Preis einer bloßen Unannehmlichkeit leiste sie einen Beitrag zur Abwehr von Gefahren für Leben, Gesundheit und Freiheit aller sowie der Funktionsweise staatlicher und gesellschaftlicher Einrichtungen.
Gästelisten zur Kontaktnachverfolgung: Erheblicher Eingriff ins "Grundrecht auf Datenschutz"
Als weit erheblicher sah der Verfassungsgerichtshof die Kontaktnachverfolgung an. Diese gibt es in der einen oder anderen Form in allen Bundesländern. Sie dient der Unterbrechung von Infektionsketten, da mit dem Sars-CoV-2-Virus infizierte Menschen auch dann andere anstecken können, wenn sie selbst nur leichte, mäßige oder auch gar keine Symptome haben. Es soll erfasst werden, wer möglicherweise engeren Kontakt mit einem Infizierten hatte, damit er/sie sich in (Selbst-)Quarantäne begeben und testen lassen kann, um nicht evtl. ungewollt weitere Menschen anzustecken.
Im Saarland regelte Art. 2 § 3 CP-VO die Kontaktnachverfolgung. Demnach werden Verantwortliche von Gaststätten- und anderen Gastronomiebetrieben, kulturellen Einrichtungen und Veranstaltungen, Indoor-Spielplätzen, Gottesdiensten und Bestattungen, Sport- und sonstigen in Bezug genommenen Veranstaltungen nach Art. 2 § 6 CP-VO, Hotels und anderen Beherbergungsunternehmen sowie von Prostitutionsbetrieben verpflichtet,
• Vor- und Familienname,
• Wohnort
• Erreichbarkeit
• sowie die Ankunftszeit je eines Vertreters der anwesenden Haushalte zu erfassen
und die Informationen aufzubewahren. Auf Anforderung sind diese an die Gesundheitsbehörden auszuhändigen. Ferner ist vorgesehen, dass diese Daten binnen eines Monats gelöscht werden.
Die Bedenken des Gerichtshofs
Der Verfassungsgerichtshof sah hierin einen erheblichen Eingriff in das „Grundrecht auf Datenschutz“. Durch die Erfassung, Speicherung und ggf. auch Weitergabe von Adress- und Kontaktdaten könnten Bürger – Grundrechtsträger – mittelbar davon abgehalten werden, bestimmte Veranstaltungen bzw. Orte zu besuchen. Tatsächlich kann der Gedanke furchterregend sein, wenn genau dokumentiert und ggf. dem Staat mitgeteilt wird, von wann bis wann man welche Gaststätte, politische, religiöse oder kulturelle Veranstaltung besucht hat. Von politischen Veranstaltungen sind lediglich solche ausgenommen, die zur Tätigkeit von Parteien oder Wählergruppen gehören.
Eine Zweckbindung, so das Gericht, erschließe sich „nur durch Interpretation“. Weiter rügte das Gericht, dass die Norm keine Vorgaben zur Ausgestaltung der Kontaktdatenerhebung mache. Das führe besonders im Bereich der Gastronomie vielfach dazu, dass nachfolgende Gäste aufgrund der häufig gebräuchlichen „Ringbucherfassung“ erkennen und sich erinnern könnten, wer vor ihnen das Unternehmen besucht hat und wie er über Telefonnummer, Mailanschrift oder Anschrift erreichbar ist.
Nicht einfach "per ordre de Mufti"
Ein derart weitgehender, gravierender Eingriff in das Grundrecht auf Datenschutz kann nach dem Verfassungsgerichtshof des Saarlandes nicht einfach per Regierungsverordnung beschlossen werden. Auch weil es nicht (mehr) um eine kurzfristige Notsituation, sondern um eine Regelung gehe, die aller Voraussicht nach länger gelten solle, sei ein parlamentarisches Gesetz erforderlich. Hierbei handele es sich auch keineswegs um eine „verzichtbare bloße Formalität“.
Anders als eine Regierungsverordnung gewährleiste ein parlamentarisches Gesetz die Debatte von Für und Wider vor dem Forum der Öffentlichkeit. Diese werde bis zu ihrer Veröffentlichung im Wesentlichen im Internum der Exekutive erarbeitet, beraten und beschlossen. Ohnehin sei bei länger dauernden grundrechtlichen Belastungen der parlamentarische Gesetzgeber dafür zuständig, Inhalt und Grenzen der Regelung zu bestimmen.
Zudem könne nach Auffassung des Gerichts im Rahmen der Kontaktnachverfolgung anfallende Datenverarbeitungen nicht auf die Rechtsgrundlage der Einwilligung, Art. 6 Abs. (1) a) DSGVO, gestützt werden. Die Freiwilligkeit, eine elementare Voraussetzung der Einwilligung, sei nicht gegeben, wenn die Verweigerung der Zustimmung nur für den Preis des weitgehenden Verzichts an der Teilnahme am sozialen Leben möglich sei. Auch sonst biete Art. 6 DSGVO keine Rechtsgrundlage, sondern nur eine Begrenzung für die Verarbeitung personenbezogener Daten. Insbesondere seien Art. 6 Abs. (1) c) (rechtliche Verpflichtung des Verantwortlichen und Art. 6 Abs. (1) e) DSGVO (öffentliches Interesse) selbst keine Rechtsgrundlage zur Datenverarbeitung, sondern setzen eine solche voraus. Dies ergebe sich bereits aus dem Wortlaut des Art. 6 Abs. (3) DSGVO. Auf den Tatbestand des Art. 6 (1) f) DSGVO (Abwägung zwischen dem berechtigten Interesse des Verantwortlichen oder Dritten und Interesse des Betroffenen) ging das Gericht allerdings nicht ein.
Der Verfassungsgerichtshof kam daher zu dem Schluss:
„Die Verpflichtung zur Gewährleistung einer Kontaktnachverfolgung durch Erhebung personenbezogener Daten durch Private ist als Eingriff in das Grundrecht auf Datenschutz ohne Vorliegen einer Anlass, Art, Umfang und Verwendung der zu erhebenden persönlichen Informationen bestimmt und normenklar regelnden parlamentarischen gesetzlichen Grundlage verfassungswidrig.“
Die Lösung: Parlamentsgesetz
Aufgrund des „uneingeschränkt legitimen Ziels“ der Kontaktnachverfolgung und weil auch die bundesweite Rechtsprechung die Problematik der fehlenden gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage bisher dahingestellt sein ließ, beschränkte sich der Verfassungsgerichtshof darauf eine „Unvereinbarkeitserklärung“ auszusprechen und gab dem saarländischen Landtag bis zum 30. November Zeit, eine entsprechende gesetzliche Regelung zu erlassen.
Eine solche Regelung wäre zu begrüßen. Das zumindest ungute Gefühl vieler Bürger, genau angeben zu müssen, wann sie sich wie lange mit wem bei welchen Veranstaltungen, d.h. zu welchem Zweck getroffen haben, ist vollständig nachvollziehbar. Dies wird verstärkt und ein Stück weit bestätigt, durch immer mehr bekanntwerdende Fälle, in denen die Gästelisten nicht zur Kontaktnachverfolgung genutzt werden. Die Polizei in verschiedenen Bundesländern wertet derartige Kontaktlisten aus und nutzt sie für strafrechtliche Ermittlungen. Auch dieses Vorgehen hatten wir bereits kommentiert. Zwischenzeitlich ist bekannt geworden, dass dies etwa in Bayern keineswegs nur - wie offiziell behauptet - zur Aufklärung von Schwerkriminalität und in Notfälle geschieht. Sondern bei Straftaten aller Art bis hin zur Ordnungswidrigkeit, und zwar sowohl „repressiv“ als auch „präventiv“ (d.h. ohne dass bereits eine Straftat passiert ist). Wessen Daten eingesehen werden, der wird davon nicht benachrichtigt.
Na und? Wer nichts zu verbergen hat, hat auch nichts zu befürchten? Nein. Es kann sogar gefährlich sein, in polizeilichen Datenbanken erfasst zu sein. Dies zeigt die Affäre um Drohbriefe des „NSU 2.0“, denen in einigen Fällen Zugriffe auf ebensolche Datenbanken vorausgingen. Die Affäre hat sich zwischenzeitlich über Hessen hinaus auch auf Berlin und Hamburg ausgeweitet.
Ein Gesetz zur Kontaktnachverfolgung, in dem Klarheit geschaffen wird, welche Daten auf welche Weise für wie lange erhoben werden sollen und in dem nachträgliche Zweckänderungen (wie etwa für polizeiliche Ermittlungen) ausdrücklich ausgeschlossen sind, wäre zu begrüßen. Vorzugsweise sollten solche Vorgaben aber bundesweit einheitlich erfolgen.
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