Liebe/r Leser/in, es war so: Ich hatte gerade den Teebeutel aus der Tasse geangelt, als ich auf den Liveticker blickte. Fünf zu eins. Fünf Tore hatte Eintracht Frankfurt geschossen, eines der FC Bayern. Sie haben völlig recht: Bei diesem Ergebnis hätte ich als Bayern-Fan in den Tisch beißen müssen. Oder Mäuse melken. Oder meine verbliebenen Haare ausreißen. Oder schreien. Fluchen. Zumindest hysterisch lachen. Nichts dergleichen tat ich. Ich ließ den Teebeutel wieder in die Tasse fallen. Der Tee schwappte über. Ich wischte den Tisch ab. Das war's. Bayerns grandios-katastrophale Niederlage gegen die Hessenkicker verursachte bei mir lediglich eine Springflut in der Teetasse. Keine Tränen, kein Heulen und Zähneklappern. Wirft mich nichts mehr aus der Bahn? Was schockiert uns noch in diesen schockierenden Zeiten? Die Nachricht, dass Deutschlands Schulkinder im internationalen Bildungsvergleich eher im Mittelfeld landeten, löste vor Jahren ein Beben der Stärke 10 auf der Schock-Skala und einen nationalen Notstand aus. Alle Eltern kollabierten, alle Lehrer flüchteten in die Frührente, und alle Kinder wurden von Einsatzkräften der Bundeswehr zur Nachhilfe transportiert. Jetzt erfahren wir, dass Rechnen, Lesen und Schreiben vom Schulplan offenbar gestrichen worden sind. Und was passiert? Nichts. Der aktuelle Pisa-Vergleich mag alles mögliche sein – ein Debakel, ein Armutszeugnis, eine Schande: Ein Schock ist er nicht. Auch dass der Bundesregierung gerade das Großgeld ausgeht, ist zwar irgendwie irre und vielleicht auch unangenehm. Aber es juckt nicht wirklich. Der Schock bleibt aus. Sind wir total unsensibel? Ist unser dickes Fell inzwischen aus Stahl? Früher (ach, früher!) war alles besser. Auch die Schocks. Man war schockiert von hohen Benzinpreisen, kranken Rindern und überfüllten Stränden. Als die Sowjets 1957 erstmals eine Blechdose in die Erdumlaufbahn schossen, löste der Sputnik-Schock ein globales Kammerflimmern aus. Und was versetzt uns heute noch in Panik? Dass ein Virus uns über Monate und Jahre aus dem normalen Leben drängte, ertrugen wir stoisch und ohne mit der Maske zu zucken. Vielleicht haben wir es übertrieben mit der „inneren Stärke“. Vielleicht sind wir inzwischen so resilient wie ein Leopard 2 im Stau auf der A9 zwischen Leipzig und Halle. Vielleicht täte uns ein wenig Schwäche gut. Wir sollten das üben. Wir könnten uns den Schock wieder einreden. Sagen Sie einfach ein paarmal am Tag: „Ich bin schockiert. Ich bin wirklich und wahrhaftig schockiert.“ Zum Beispiel, wenn Sie Zeitung lesen. Oder den Liveticker einschalten. | | Herzlich grüßt Markus Krischer, stellvertretender Chefredakteur FOCUS Magazin |
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