Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen,
es sind aufwühlende Zeiten – politisch, militärisch, menschlich und auch medial. Nahezu stündlich neue Appelle aus der Politik, neue Erkenntnisse zum Frontverlauf im Kriegsgebiet, erschreckende Details zu Kriegsverbrechen, verstörende Reportagen und Berichte von vor Ort. Und dazu das politische Krisenmanagement im Dauermodus: Welches Land liefert welche Waffen, welche Sanktionen sind sinnvoll, wie kann man die eigene Wirtschaft schützen, wie kann man gemeinsam den Druck auf den Aggressor erhöhen? Der enge Austausch unter den (westlichen) Partnerländern wird dabei immer wieder betont.
Doch dieser „enge Austausch“ ist offenbar unerwünscht, wenn es nicht den Krieg in der Ukraine betrifft. Wenn es zum Beispiel um das Schicksal von Julian Assange geht. Sein Vater und sein Bruder haben jetzt während ihres Berlin-Besuchs die deutsche Regierung (mal wieder) um Unterstützung gebeten. Sie solle doch bitte ihren Einfluss geltend machen, dass die britische Regierung Julian Assange nicht an die USA ausliefert, wo ihm wegen angeblicher Spionage bis zu 175 Jahren Haft drohen. Die Reaktion der Bundesregierung ist in vielerlei Hinsicht bemerkenswert und auch entlarvend: Es handle sich um ein Rechtsverfahren in einem anderen Land, erklärt Regierungssprecher Steffen Hebestreit. Er wisse nicht, wie die Bundesregierung da auf politischer Ebene eingreifen könne.
Abgesehen davon, dass es eine politische Entscheidung der britischen Regierung war, dem politisch motivierten Auslieferungsantrag der USA zu entsprechen – diese Begründung der deutschen Regierung für ihre Untätigkeit wird man in vielen autoritären Regimen dieser Welt mit Wohlgefallen registrieren. Schließlich verwahren die sich immer genau mit diesem Argument gegen Appelle, Menschenrechte zu achten, zu Unrecht inhaftierte Bürgerrechtler*innen, Intellektuelle, Oppositionelle oder Journalist*innen aus der Haft zu entlassen. Dies seien „interne Angelegenheiten“, in die sich Außenstehende nicht einzumischen hätten.
Und dann gibt es noch diese Nachricht vom 19. Juni: „G7-Staaten wollen stärker zur Pressefreiheit kooperieren“ – so das Ergebnis des erstmaligen Treffens der für Medien zuständigen Minister*innen der sieben Länder. Die deutsche Staatsministerin Claudia Roth verkündet stolz, man wolle sich stärker für den Schutz von gefährdeten Journalist*innen einsetzen. Da hätte man ja mit dem Schicksal von Julian Assange anfangen können. Hätte, hätte…
Die Untätigkeit der Regierung(en), das Schweigen der Verantwortlichen ist verstörend. Selbst von den Minister*innen der Grünen kein Wort. Das war zu Oppositionszeiten ganz anders. Und auch auf EU-Ebene – nichts. Obwohl es doch dort Kommissar*innen für Werte und Transparenz sowie für Justiz und Rechtsstaatlichkeit gibt.
Doch es sind nicht nur Politiker*innen, deren Schweigen auffällig ist. Wo bleiben eigentlich die Appelle der großen Verlagshäuser, der Sender – also all jener, die früher alles taten, um von den Enthüllungsgeschichten des Julian Assange zu profitieren? Die seine Plattform WikiLeaks möglichst exklusiv nutzen wollten? Die – auch in Konkurrenz untereinander – immer die Ersten sein wollten, wenn es neue, spektakuläre Videos oder neue, brisante Dokumente gab? Die immer seine Nähe suchten, hoffend auf den nächsten Scoop, um ihrem Anspruch vom investigativen Journalismus gerecht zu werden? Ja, es gab auch immer mal wieder heftigen Streit zwischen Assange und den beteiligten Redaktionen. Und ja, Julian Assange war bisweilen ein schwieriger Partner, nicht immer verlässlich, nicht immer seriös. Aber das rechtfertigt nicht, das man ihm heute die Solidarität verweigert, die er bitter nötig hat.
Es soll nicht verschwiegen werden, dass es viele – auch prominente – Unterstützer*innen gibt, die sich für ihn engagieren. Und nicht nur nationale und internationale Journalistenorganisationen melden sich immer wieder zu Wort, appellieren an die Verantwortlichen, endlich ihr Nichtstun zu beenden, sich klar zu positionieren. Bisher alles vergeblich. Julian Assange sitzt noch immer in Haft. Er muss seine Auslieferung in die USA befürchten. Und ist übrigens nicht der einzige Mensch, der wegen seiner für manche unliebsamen Recherchen der Freiheit beraubt wurde. Auch für die anderen sollten wir uns weiterhin engagieren. Wir sind es ihnen schuldig!
Das Schicksal von Julian Assange und all den anderen verfolgten Kollegen*innen wird uns auch auf unserer (hoffentlich mal wieder stattfindenden) Jahrestagung am 30. September/1. Oktober auf dem Hamburger NDR-Gelände beschäftigen. Anmeldungen zur Teilnahme sind auf der NR-Website schon möglich.
Das Motto unserer Konferenz lautet: Hinschauen und dranbleiben! Recherche in Krisenzeiten
Wir hoffen, dass wir uns alle mal wieder treffen – und uns über all das austauschen, was uns wichtig ist – auch in schwierigen Zeiten.
Es grüßen
Kuno Haberbusch
Albrecht Ude