Kurt Kister gibt Einblick in deutsche Alltagsmomente
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4. Oktober 2024
Deutscher Alltag
Guten Tag,
neulich habe ich mit meinem Lieblingsressortleiter in der Zeitung gesprochen. Er ist manchen unheimlich, am meisten wahrscheinlich sich selbst. Außerdem gilt er als Nerd, weil im Mittelpunkt seines Lebens, zieht man Frau, Kinder und Beruf ab, die nicht mehr existierende Band Pink Floyd steht. Nerds sind Menschen, die sich für eine oder wenige Sachen so sehr interessieren, dass man den Eindruck haben kann, sie interessierten sich nicht so sehr für das Leben insgesamt. Wenn ich mal einen Artikel für das Feuilleton schreibe, egal ob der von Habermas’ Weltbild oder Leonard Cohen handelt, macht der Ressortleiter gern den Vorschlag, dass man da auch noch zwei Sätze über Pink Floyd hineinschreiben könnte. Ich akzeptiere das meistens, so wie man, wenn man den Regen liebt, es hinnimmt, dass man nass wird.

Das Nerdsein ist ein wichtiger Teil der Identität vieler Männer. Es gibt zwar auch jede Menge weibliche Nerds, darunter die Schuhköniginnen. Aber die Konzentration auf ein Interessengebiet, die oft mit dem Sammeln von Dingen und fast immer mit dem Anhäufen von Wissen, das für Nichtnerds sinnlos zu sein scheint, verbunden ist, scheint mir typisch männlich zu sein. Wenn Männer ihre Energie nicht auf sich selbst richten, richten sie sie auf Fußball, Mountainbikes oder auf Autos. Letzteres ist in manchen SZ-Leserkreisen, die bevorzugt in grün wählenden Vierteln größerer Städte wohnen, eher verpönt. Das heißt aber nicht, dass es nicht immer noch jede Menge Männer unterschiedlichen Alters gibt, die den Kontakt mit Autos, speziell ihrem Auto, als erstrebenswerter ansehen als den Kontakt mit dem einen oder anderen Menschen.

Die Objekte meines Nerdismus sind Bücher und das, was man heute „Tonträger“ nennt. Früher hießen die nur Schallplatten, bevor sie in rascher Folge zu Kassetten, dann zu CDs und schließlich zu immateriellen Datenströmen mutierten. Weil man aber nicht sagen mag: „Wie findest du den neuen Datenstrom von Linkin Park?“, sagt man halt immer noch „die neue Platte“. Und weil es eine bescheidene Renaissance der Vinyl-LP gibt, was die Vinyl-Nerds schon kurz nach dem Aufkommen der CD prognostizierten, ist das mit der Platte auch in modernen Zeiten okay.

Ich habe mir neulich eine Box mit 27 CDs aller Konzerte gekauft, die Bob Dylan 1974 mit The Band in den USA absolvierte. Kein normaler Mensch muss wissen, warum diese Tournee etwas Besonderes war. Und natürlich muss kein normaler Mensch 24 nicht sehr verschiedene Versionen von „Knockin’ On Heaven’s Door“ hören, wie sie auf den CDs der Tourneebox zu finden sind. Was man muss oder gar, was man „braucht“, ist in der Welt des Dylanismus völlig egal – dabei bin ich von meinem Kenntnisstand her nicht mal ein wirklicher Dylanologe. Wichtig ist, dass man die Box hat und sie dann neben die überteuerte Live-at-Budokan-Box stellt, angelehnt an die rote Schachtel mit dem Titel „The Complete Album Collection“, in der 47 CDs wohnen. Die anderen offiziellen und gebootlegten Dylan-Sammlungen in meinem Besitz muss man hier nicht aufzählen, weil das doch zu nerdisch wäre.

Während der Corona-Zeit habe ich manche Stunde damit zugebracht, Internet-Antiquariate nach den bunten Taschenbüchern aus den ersten dreißig Jahren der edition suhrkamp – schreibt man beides klein, weil das damals progressiv war – zu flöhen. Das Ergebnis ist, dass ich nun zwei brechend volle Regale mit es-Bänden habe, in denen sich jede Menge auch ziemlich apokryphe Literatur, bisweilen seltsame Lyrik und viel altlinke Theorie und Essayistik findet. Ich kann so nicht nur meinen Nerdismus ausleben, sondern habe auch noch einen winzigen Teil der gestorbenen Bundesrepublik eingefangen, von der man damals nicht glaubte, sie würde dahin führen, wo wir heute sind. Weder dachte ich zu besten Suhrkamp-Zeiten, die DDR würde in der BRD aufgehen, noch hielt ich es für möglich, dass außer Jürgen Habermas mal alle relevanten Vertreter der Suhrkamp-Kultur tot sein würden, ich selbst aber noch lebe.

Ein immens wichtiger Faktor beim Nerdismus besteht darin, dass er oft die Funktion einer Zeitmaschine hat. Das trifft auf jene genauso zu, die die Mannschaftsaufstellung des TSV 1860 München, als der 1966 deutscher Meister wurde, herbeten können, wie auf solche, die Setlists von Konzerten der Rolling Stones in der zweiten Hälfte der Siebzigerjahre im Kopf haben. Sowohl 1860 als auch die Stones waren damals besser als heute. Ob das Vorgestern insgesamt besser war als das Heute, spielt bei dieser selektiven Wahrnehmung keine Rolle. Nerdismus bedeutet ein Maximum der Fokussierung, aber auch der Ausblendung. Je mehr der Nerd in einem Überhand nimmt, desto allgemein lebensuntüchtiger wird man.

Die zweitseltsamste Frage, die ein Unkundiger einem Nerd stellen kann, lautet: Brauchst du das alles? Nein, brauch ich nicht. Leben kann ich ohne die Dylan-Box oder meine Sammlung alter Expeditionsliteratur. Ich will’s aber haben. Und die seltsamste Frage an einen Büchernerd, die aber auf fast alle Gebiete des Nerdismus übertragbar ist: Liest du das alles? Nein, ich lese zwar viel mehr als all die lebenstüchtigen, pragmatischen, amtelefonklebenden Nichtnerds. Aber man hat Bücher nicht, um sie zu lesen, jedenfalls nicht in erster Linie. Bücher im Regal und Dylan-Boxen gestapelt sagen: Ich war, ich bin immer noch und ich werde sein. So ist das auch mit Pink Floyd. Dieser Satz stammt von mir und nicht von meinem Lieblingsressortleiter.
Kurt Kister
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