  | | |  | | 2. Juni 2023 | | Deutscher Alltag | | | |
|
| | | | | es gibt signifikante Unterschiede zwischen Männern und Frauen. (Keine Sorge, dies ist kein Gendertext und auch nicht der 34. SZ-Kommentar, dass die Razzia gegen die "Letzte Generation" überzogen war.) Also: Männer heben mehr Gruscht auf als Frauen. "Gruscht" ist ein Wort, das meine Oma mütterlicherseits, 1899 in Lindenberg im Allgäu geboren, damals noch zum Königreich Bayern gehörend, gerne benutzt hat. Manche Leute schreiben Kruscht statt Gruscht, obwohl der Anfangsbuchstabe nicht hart, sondern weich gesprochen wird.
Meine Oma sprach ein bayerisches Schwäbisch, das nicht so klang wie etwa Böblinger Schwäbisch, auch wenn es mir manchmal zu denken gibt, dass Schwaben zu meinen Vorfahren zählen. Im letzten Drittel meines Berufslebens hatte ich viel mit Schwaben zu tun. Dabei habe ich gelernt, dass es 1) auch angenehme Schwaben gibt, die sich allerdings oft gut verstecken, und dass 2) die schwäbischen Pfälzer schlimmer sind als die schwäbischen Schwaben. Sagen Sie jetzt nicht, es gäbe keine schwäbischen Pfälzer. Die gibt es genauso wie es preuÃische Bayern gibt.
Gruscht ist Zeug ohne recht bezifferbaren Wert, Aufgehobenes von Reisen, Dinge aus früheren Leben, Nippes, Anstecker, Zinnfiguren, Bilder etc. Männer sammeln gern, und das, was sie sammeln, definiert sich in erster Linie dadurch, dass sie es gesammelt haben. Die Einzelteile einer Sammlung verlieren, aus der Sammlung genommen, meistens ihren Sinn - ungefähr so, wie Oliver Kahn nur als Teil der Sammlung "Sonderbare Bayern-Chefs" einen Sinn zu haben scheint, nicht aber als Individuum. Möglicherweise hat Kahn das selbst erkannt, sodass damit seine harsche Reaktion auf die Entfernung aus der Sammlung "Sonderbare Bayern-Chefs" zu erklären ist.
Gruscht wird von Menschen aufbewahrt, die es sich nicht leisten können, Dinge zu sammeln, die aufgrund eines allgemeinen Konsenses nicht als Gruscht bezeichnet werden, obwohl man sie sammelt. Darunter fallen zum Beispiel Picassos oder Kahlos, altrömische Goldmünzen oder Ferraris. Normale Sammelgegenstände, stets an der Grenze zwischen Gruscht und collectables (was keine englisch-amerikanische Bezeichnung hat, ist grundsätzlich Gruscht), sind so unterschiedliche Dinge wie Bierdeckel, Briefmarken, Kronenkorken, FuÃballbilder, Basecaps usw. Man muss gegenüber sich selbst nicht begründen, warum man alte, unwertvolle Geldscheine sammelt, es reicht, dass man sie sammelt. Colligo ergo sum, ich sammle, also bin ich. Man kann diese Lebenseinstellung zum Beispiel auf Flohmärkten verkörpert sehen. Dort wird enorm viel Gruscht verkauft - und ähnlich viel Gruscht gekauft.
Wenn man ein Leben aufräumt, eine Wohnung umräumt oder ein Büro ausräumt, stöÃt man auf viel Gruscht. Wozu zum Beispiel zählen Aktenordner voller abgehefteter, auf vergilbtem Papier aufgeklebter Artikel? "Veröffentlichungen 1996, USA/München" steht auf dem Rückenschild eines dieser Ordner. Er hat noch etliche Brüder. Die Sammlung ist eine ziemlich tote Angelegenheit, so wie eben die Vergangenheit ein fremdes Land ist, in dem niemand mehr lebt. Vielleicht laufen ja all diese Leute, über die ich damals geschrieben habe, irgendwann an einem Dienstag kurz nach Mitternacht, wenn niemand im SZ-Turm ist, als winzig kleine Wesen aus dem Ordner 1996 heraus und suchen die Zukunft: Bob Dole und Klaus Kinkel, Roman Herzog und Hillary Clinton. Sie haben dafür, stelle ich mir vor, nur eine Stunde Zeit, weil sie dann wieder zurück müssen ins Papier. In einer Stunde findet man die Zukunft nicht, im SZ-Turm schon gar nicht.
Ich befürchte, die Ordner sind Gruscht. Sie gehören mutmaÃlich dahin, wo die zwei Plastiktüten voller Akkreditierungsausweise, diverse Urkunden sowie der Inhalt von zwei Dutzend Hängeordnern (ja, ja, liebe Kinder, so etwas gab es früher: Hängeordner) hingehören. Welchen sittlichen Nährwert haben heute die alten Briefe an Verleger, die schon lange nichts mehr verlegen, Er- und Abmahnungen von und an Kollegen und Kolleginnen, die in Rente sind, geistreiche Antworten auf empörte Leserbriefe, gesammelt als Durchschläge auf sehr dünnem Papier?
Wenn man den Gruscht so aussucht, stöÃt man allerdings auch auf Kleinschätze, deren Existenz man vergessen hat, sollte man sie denn je hinreichend wahrgenommen haben. Da findet sich etwa das immer noch hinreiÃende Pariser Fotobuch des groÃen, leisen Ex-SZ-Korrespondenten Gerd Kröncke (gibt's noch antiquarisch), oder zwei Bildbände von Konrad R. Müller, dem in vielerlei Hinsicht leidenschaftlichen Porträtisten. Und ich lese mich fest in einem ernst gemeinten, ebenso realistischen wie absurden Buch mit dem Titel "Rechtsfragen beim Kontakt mit Extraterrestrischen". Der Berliner Rechtsanwalt Klaus Stähle schreibt darin so schöne Sätze wie: "Beim jetzigen Stand der irdischen Raumfahrttechnik sind im Falle eines Kontakts die anderen die Entdecker und wir die Entdeckten." Dann widmet er sich dem Luftfahrtrecht, dem Strafrecht und dem Völkerrecht - alles unter den Auspizien eines Kontakts zwischen Menschen und AuÃerirdischen. Kein Gruscht.
Je älter ich werde, desto mehr habe ich selbst das Gefühl, ich sei aus dem Lager der Entdecker in das der Entdeckten gewechselt worden. Als Entdecker kann man Gruscht für kulturanthropologisch interessant halten. Als Entdeckter hofft man, dass die Entdecker vielleicht den Gruscht mitnehmen und in Ehren halten. | |
|
| | | | |  | | Aus Ihrer SZ | | | |
|
|  | | | | Wie sieht's denn hier aus? | | Der Zustand des Kinderzimmers ist ein ewiges Streitthema in Familien. Dabei könnten Kinder Spaà am Aufräumen haben, wenn die Eltern nicht so eine groÃe Sache daraus machen würden. | | | |
|
| | | |  |
---|
Die groÃen gesellschaftlichen Fragen unserer Zeit. | | | |
|
|
| | | | |  | |  | |  | Entdecken Sie unsere Apps: |  | |  |
| Folgen Sie uns hier: |  | |  |
|
---|
|  |  | Impressum: Süddeutsche Zeitung GmbH, Hultschiner StraÃe 8, 81677 München Tel.: +49 89 2183-0, Fax: +49 89 2183 9777 Registergericht: AG München HRB 73315 Ust-Ident-Nr.: DE 811158310 Geschäftsführer: Dr. Karl Ulrich, Dr. Christian Wegner Copyright © Süddeutsche Zeitung GmbH / Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH. Hinweise zum Copyright Sie erhalten den Newsletter an die E-Mail-Adresse [email protected]. Wenn Sie den âDeutscher Alltagâ-Newsletter nicht mehr erhalten möchten, können Sie sich hier abmelden. | Datenschutz | Kontakt |  |
|
|
|