Kurt Kister gibt Einblick in deutsche Alltagsmomente
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31. März 2023
Deutscher Alltag
Guten Tag,
vor langer Zeit habe ich mal Paul Austers New-York-Trilogie gelesen. Deren erster Teil, „Stadt aus Glas“, fängt damit an, dass jemand den Protagonisten Daniel Quinn anruft, weil er ihn für den Detektiv Paul Auster hält. Austers Vexierspiel mit sich selbst klingt etwas kompliziert, ist es aber nicht, denn sonst wäre die Trilogie nicht so populär geworden. Auster sprach später in einem Interview skeptisch über die manchmal erfolgende Gleichsetzung des Autors Auster mit der New-York-Trilogie. Das erinnere ihn an Lou Reed und seinen Song „Walk on the Wild Side“. Lou Reed, sagte Auster, konnte dieses Lied irgendwann nicht mehr ausstehen, weil es ihn verfolgte.

Ist ja auch so: Alle, die (noch) was mit dem Namen Lou Reed anfangen können, haben diese Zeilen im Hirn: „But she never lost her head / even when she was giving head / she says, hey, babe take a walk on the wild side". Wenn man etwas reifere Musik hört, schlagen einem die Algorithmusgespenster von Spotify oder anderen Strömungsdiensten in vielen Deine-Songs-Playlists „Walk on the Wild Side“ vor. Allmählich verliert man die Lust daran, auch wenn man damals, als kein Mensch wusste, was LGBTQ einmal werden würde, den Anfang des Songs – Holly came from Miami, F.L.A. / hitch-hiked her way across the U.S.A. / plucked her eyebrows on the way / shaved her legs and then he was a she – nahezu erregend fand.

Wenn das Beste endlos wiederholt wird, verliert es seine Besonderheit und damit auch seinen Charakter, seine Aura. Leider und Gott sei Dank leben wir – schöne Grüße an Walter Benjamin – im Zeitalter der unbegrenzten technischen Reproduzierbarkeit des Kunstwerks. Während ich diese Zeilen geschrieben habe, habe ich zwischendurch auf Youtube zwei Versionen von „Walk on the Wild Side“ angeschaut: Lou Reeds Auftritt bei Farm Aid 1985, und eine Unplugged-Version von 1997. Benjamin hat 1936 in seinem Aufsatz über die technische Reproduzierbarkeit des Kunstwerks geschrieben: „Das Hier und Jetzt eines Originals macht den Begriff seiner Echtheit aus.“ Weil die Leute „Echtheit“ erleben wollen, stauen sie sich immer noch vor der Mona Lisa in Paris oder vor Gustav Klimts „Kuss“ in Wien. Allerdings hat deren massenhafte Vervielfältigung sie leider auch trivialisiert.

Mit digitaler Hilfe lässt sich auch das Hier und Jetzt, das Benjamin für einmalig hielt, beliebig reproduzieren. Ich kann jederzeit Lou Reed aus dem Reich der Toten nahezu live auf dem Bildschirm herbeizitieren, ohne dass mich Vergil in die Unterwelt führen müsste.

Wenn ich mal groß bin, schreibe ich vielleicht ein Buch über die Aufhebung der Zeitlichkeit durch das Smartphone. Glücklicherweise werde ich so groß nicht mehr werden. Als Autor (m/w/d) als groß zu gelten, birgt auch die Gefahr, dass man mit dem neuen Freund oder der neuen Freundin in der Brüll-Zeitung abgebildet wird.

Der Mensch, der in Austers Roman Quinn anruft und ihn für einen Detektiv hält, hat sich übrigens „verwählt“. Das ist ein schönes Wort, das allmählich aus der Mode gerät, weil man auf dem Mobiltelefon nur noch selten selbst Ziffern eingibt. Man hat die Nummern entweder in den Kontakten gespeichert – viele Leute sagen „abgespeichert“, was genauso überflüssig ist wie „verstorben“, wenn man gestorben meint. Oder man drückt auf Wahlwiederholung. Oder man sucht die Website der Detektei Auster und klickt dort auf das Telefonsymbol. Selbst eine Telefonnummer einzugeben, ist so was von vorgestern. Fast so wie Lou Reed.

Noch vorgestriger ist es, falsch verbunden zu sein, jedenfalls telekommunikationsmäßig. Das stammt aus jener Zeit, in der das Fräulein vom Amt – nahezu ein F-Wort – Telefonverbindungen steckte. Wenn Kommissar Maigret das Chez Louis sprechen wollte, stöpselte die Telefonistin die Verbindung. Manchmal klappte das nicht, und es war die Kohlenhandlung in der Rue Dauphine am Apparat. Als ich, noch zu Breschnews Lebzeiten, bei der Bundeswehr die Freiheit der Westdeutschen verteidigte, hatten wir immer noch diese kurbeligen Feldfernsprecher, die im Prinzip schon mein Vater 1944 benutzt hatte. Da war man schnell falsch verbunden. Angeblich ist die Bundeswehr jetzt etwas weiter. Wahrscheinlich hat sie die Feldfernsprecher der Ukraine gegeben.

Auch in der Nachstöpselzeit hielt sich der Begriff „falsch verbunden“ noch lange. Sogar heute sagt mancher Mobiltelefonierer, wenn er mit jemandem nicht sprechen will: „Tut mir leid, falsch verbunden“. Nützliches Altes bekommt neue Bedeutungen. Und dass der Mensch, jenseits des Telefons, in mancher Beziehung und in manchen Beziehungen hin und wieder falsch verbunden ist, gehört zum Leben.

Ähnliches trifft auch für das Verb „verwählen“ zu. Wenn man das Ampel-Gerumpel betrachtet, könnte man, sollte man 2021 Grüne oder FDP gewählt haben, das Gefühl entwickeln, man habe sich verwählt. Auch mancher SPD-Stimmabgeber oder manche Abgeberin mag sich für 2025 eine Alternative überlegen, wenn auch bestimmt nicht die für Deutschland. Ach, leichter wird es nicht. Bei Schwarz-Grün droht „falsch verbunden“, bei Schwarz-Rot ein heftiges Déjà-vu-Erlebnis.

Da schau ich dann doch lieber noch mal auf Youtube. Lou Reed, 2000 in Montreux, „Perfect Day“. Leise, melancholisch. „Just a perfect day / you make me forget myself / I thought I was someone else / someone good.“ Träume lassen sich nicht speichern. Sie sind auch nicht reproduzierbar.
Kurt Kister
Redakteur
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