Donnerstag, 10. Oktober 2024 | |
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| Wie in großen persönlichen Dramen große politische anklingen |
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Es ist die berühmteste geschlossene Tür der Literatur: Im klassizistischen Ambiente der Schwedischen Akademie, mitten in Stockholm, kaum hundert Meter vom Königsschloss entfernt, kommt sie zuverlässig ins Bild, wenn alljährlich an einem Donnerstag Mitte Oktober die Vergabe des Nobelpreises ansteht. Und wenn diese Tür sich dann auftut, öffnen sich für die Person, deren Name eine Minute später verkündet wird, auch alle anderen Türen. Weltwirksamkeit ist garantiert. | Andreas Platthaus | Verantwortlicher Redakteur für das Ressort „Literatur" und „Literarisches Leben“. | |
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| Gestern war es wieder einmal so weit. Und diesmal öffnete sich die Tür für die koreanische Schriftstellerin Han Kang. Das ist nach den beiden letzten Preiszuteilungen, die zugunsten von Annie Ernaux (2022) und Jon Fosse (2023) erfolgten, die beide schon vorher zu den international berühmtesten Schriftstellern gezählt hatten, eine Abkehr von Hochprominenz. Davor hatte es aber bei den Literaturnobelpreisen zwei große Überraschungen gegeben: die amerikanische Lyrikerin Louise Glück (2020) und den tansanisch-britischen Schriftsteller Abdulrazak Gurnah (2021). Letzterer war in den vergangenen zehn Jahren der einzige Autor, der nicht komplett einer westlichen Literaturtradition entstammt (Kazuo Ishiguro, der Preisträger von 2017 wuchs seit seinem sechsten Lebensjahr in Großbritannien auf). Zuvor hatte als letzter asiatischer Autor 2012 der Chinese Mo Yan den Literaturnobelpreis erhalten, aber immer noch sind Asien und Afrika gemessen am Reichtum ihrer Literaturen unterrepräsentiert im Reigen dieser Auszeichnung. Der diesjährige Preis für Han Kang hilft da wenigstens etwas ab.
Manches ändert sich auch dann nicht | Sie ist jung – für eine Literaturnobelpreisträgerin: geboren 1970, somit die jüngste Ausgezeichnete seit Joseph Brodsky, der 1987 im Alter von siebenundvierzig geehrt wurde. Aber sie hat trotzdem ein zeitlich breites Themenspektrum. Denn die Bücher von Han Kang, die in Korea nach lyrischen Anfängen als Romanautorin Mitte der Neunziger debütierte, auf Deutsch erst zehn Jahre später entdeckt wurde und dann noch einmal ein Jahrzehnt warten musste, bis regelmäßige Übersetzungen folgten (beim Aufbau Verlag), sind Spiegelbilder der koreanischen Nachkriegsgeschichte. Das meint natürlich nach dem Koreakrieg, der die Teilung des Landes festschrieb, worauf sich in Nord- wie Südkorea Diktaturen etablierten. Han Kang ist Südkoreanerin, und ihre Generation erlebte in der Jugend noch die letzten Jahre des autoritären Regimes. Das ist Thema in ihrem Roman „Menschenwerk“, der 2017 auf Deutsch herauskam, vier Jahre nach dem koreanische Original. In ihm wird an die toten Demonstranten beim sogenannten Gwangju-Aufstand von 1980 erinnert, und Gwangju ist Han Kangs Heimatstadt. Der Roman erzählt aber auch vom Tod zweier Mädchen etwas mehr als zwanzig Jahre später, die von einem amerikanischen Militärfahrzeug überfahren wurden. Manches, das macht dieser Roman klar, ändert sich auch dann nicht, wenn politische Systemwechsel zum Besseren erfolgen.
Literatur vermag nicht alles auszudrücken | „Menschenwerk“ war in Deutschland das Nachfolgebuch jenes Romans, der Han Kang international bekannt gemacht hat: „Die Vegetarierin“, in Korea schon 2007 erschienen und auf Deutsch dann 2016 der Startpunkt für ihren hiesigen Erfolg – im selben Jahr, als sie dafür auch den International Booker Prize erhielt. Vordergründig wird darin ein Ehedrama erzählt, doch die Person einer eher unterwürfigen Hausfrau, die sich nach einem erschreckenden Traum entscheidet, künftig vegetarisch zu leben, damit den Ehemann verstört und ihre Gesundheit zu zerstören scheint, erweist sich als schon zuvor vielfach Traumatisierte, die nicht nur ihren verständnislosen (und staatstreuen) Ehemann hat, sondern auch einen Vater, der sich als Kommunistenfresser freudig im Vietnamkrieg hatte einsetzen lassen. Han Kang blickt in ihren Büchern über die koreanischen Grenzen hinaus und sucht jenseits davon nach Gemeinsamkeiten. Etwa dabei, wie Menschen sich von solchen eigenen Gewohnheiten lösen können wie „der magnetischen Kraft, die uns an unseren Leib bindet“, wie Han Kang es einmal formuliert hat. Auch der Sog ihrer Bücher sorgt für Gegenmagnetismus. Zugeständnisse an westliche Lesegewohnheiten macht sie dabei nicht, wie ihr auf Deutsch vor vier Jahren erschienener kombinierter Prosa- und Bildband „Weiß“ zeigt, in dem die reiche fernöstliche Bild-Erzähltradition eine zeitgemäße Fortsetzung findet: mittels eingestreuter Fotos einer Performance. In der Trauer über den Tod ihrer Schwester findet die Ich-Erzählerin dieses Buchs zu einem Ausdruck des Schmerzes, der sich bewusst bisweilen den Worten entzieht. Diese Literaturnobelpreisträgerin glaubt nicht daran, dass Literatur alles auszudrücken vermag.
Längst eine der beliebtesten Schriftstellerinnen | Auch die Bezeichnung als „feministische Schriftstellerin“ würde zu kurz greifen, denn Han Kang fehlt das Kämpferische. Aber ihre Hauptprotagonisten sind Frauen – auch wieder im jüngsten hierzulande erschienenen Buch, dem Roman „Griechischstunden“, der im vergangenen Winter übersetzt wurde – diesmal mit dreizehn Jahren Abstand zum Original. Darin verliebt sich eine Gymnasiastin in ihren Lehrer, der als Junge sowohl in Korea wie Deutschland aufwuchs und deshalb die Erfahrungen zweier geteilter Nationen in sich trägt, zwischen denen er auch noch als Erwachsener unfähig ist, sich zu entscheiden. Und auch dieser Roman braucht wieder nur zweihundert Seiten (wie schon „Die Vegetarierin“), um in den großen persönlichen Dramen die großen politischen anklingen zu lassen. Mit Han Kang bekommt also eine Autorin den wichtigsten aller Literaturpreise, die auf Intensität setzt. Keine Epikerin und auch keine Engagierte. Aber eine durchaus Enragierte, die ihre Kritik an dem, was sie selbst erlebt hat, und dem, was sie beobachtet, in eine derart konzentrierte private Form zu kleiden versteht, dass ihre Bücher Maßstäbe setzen für individuelle literarische Stimmen aus Gesellschaften, die aus unserer Sicht das Kollektiv höher zu bewerten scheinen als den Einzelnen. Dass Han Kang in ihrem Heimatland längst eine der beliebtesten Schriftstellerinnen ist, zeigt, dass solche Klischees obsolet sind. Dafür ist Literatur wichtig. Und der von Han Kang stehen nun alle Türen offen.
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F.A.Z.-Newsletter: Literatur |
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| | | Der wichtigste aller Literaturpreise ist bislang viel zu selten an asiatische Autoren gegangen. Mit dem Nobelpreis für die Südkoreanerin Han Kang wird das jetzt endlich einmal korrigiert. |
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| | | Als er „Die Vegetarierin“ in die Finger bekam, hatten viele hiesige Verlage den Roman schon abgelehnt: Tom Müller erzählt, wie er als Lektor im Aufbau-Verlag das erste Buch von Han Kang in deutscher Übersetzung veröffentlicht hat. |
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| | | Bitte stirb nicht: Der Prosa-Bildband „Weiß“ der südkoreanischen Autorin Han Kang ist eine poetische Meditation über den Verlust einer Schwester. |
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| | | Allen die Maske vom Gesicht reißen: Die Koreanerin Han Kang seziert in ihrem Roman „Deine kalten Hände“ Essstörungen und Fleischeslust. |
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| | | Die südkoreanische Schriftstellerin Han Kang im Interview mit der „Frankfurter Allgemeine Quarterly“ über ihren neuen Roman „Menschenwerk“, die Schatten der Vergangenheit und Nordkorea. |
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| | | Die Koreanerin Han Kang wurde mit „Die Vegetarierin“ auch im Westen berühmt. Ihr neuer Roman „Menschenwerk“ erzählt souverän und ergreifend von einem Massaker an Zivilisten und den Folgen für die Gesellschaft. |
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| | | Dies ist die literarische Entdeckung des Jahres: „Die Vegetarierin“ heißt der Roman der aus Südkorea stammenden Schriftstellerin Han Kang. Er lässt den Leser völlig aufgewühlt und zugleich tief beeindruckt zurück. |
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| | | Der Nobelpreis wurde von dem schwedischen Erfinder und Industriellen Alfred Nobel das erste mal 1901 gestiftet. Die interaktive Übersicht informiert Sie über die Preisträger aus den unterschiedlichen Kategorien. |
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