Liebe/r Leser/in, in Momenten der Eskalation verharrt unser Blick gern auf der Oberfläche – auf den Hauptdarstellern der Bühne der Welt. Da ist Israels Premier Netanjahu, der erklärt: „Für den Sieg ist es erforderlich, Rafah einzunehmen.“ Oder Irans Religionsführer Chamenei, der droht: „Das boshafte Regime wird bestraft werden.“ Und auch die Diplomaten des Westens: von Blinken bis Baerbock, die ringelreisen, wovon wenig mehr übrig bleibt als sorgenzerfurchte Stirnpartien und der schale Geschmack der Ohnmacht. Ich frage mich: Sind es tatsächlich diese Figuren, die über Krieg und Frieden entscheiden? Oder müssen wir genauer hinsehen, um zu erkennen, wer, verborgen in der Kulisse, die eigentliche Macht darüber hat, wie lange das Morden andauert? Vor einigen Wochen erzählte unser Autor Alexander Bartl, er habe begonnen, die Strukturen einer sehr mächtigen, prominenten palästinensischen Familie auszuleuchten: der Barghoutis. Der Clan stammt aus dem Westjordanland nahe Ramallah. 20.000 Mitglieder sind weltweit verzweigt, von Gaza über Katar bis in die USA. Sie sind perfekt vernetzt und vertreten in allen Gruppierungen Palästinas – den sozialen wie den politischen, den nationalistischen und islamistischen, den propagandistischen, militanten und terroristischen. Omar, der Ältere: erst Fatah-Kämpfer, dann Hamas-Promi, immer Terrorist. Omar, der Jüngere: Mitgründer des Netzwerkes BDS, das weltweit zum Boykott israelischer Produkte, Wissenschaftler und Künstler aufruft. Nael: wegen Terrors 44 Jahre in Haft. Fakhri: für Mord 33 Jahre inhaftiert. Abdullah: Bombenbauer und hochrangiger Kommandeur der Hamas-Brigade al-Kassam … So geht es weiter. Und weiter. „In der Geschichte der Barghoutis verdichtet sich der Nahostkonflikt seit seinen Anfängen – in seiner ganzen Brutalität, seinem Fanatismus und seinen Widersprüchen“, schreibt Bartl. Spätestens seit dem 7. Oktober spielt ein Clan-Mitglied endgültig die Hauptrolle in diesem Drama: Marwan Barghouti. 64 Jahre alt, seit 22 Jahren im Gefängnis, einst war er Arafats militanter Generalsekretär, dann Anführer der fürchterlich blutigen Zweiten Intifada, und heute – ist er der populärste Politiker Palästinas. Sein Antlitz strahlt von Häuserwänden. Er ist beliebter als Hamas-Führer Haniyeh und als Präsident Abbas sowieso. Nicht wenige sehen in ihm den einzigen Kandidaten, auf den sich Fatah und Hamas einigen könnten, ließen ihn die Israelis im Tausch gegen Geiseln frei. Aber könnte dieser Mann, ein verurteilter Mörder, zum Schlüssel werden für einen Weg Richtung Ruhe? Der US-Satiriker Bitter Pierce hat einmal gesagt, Diplomatie werde definiert als „Tausch vieler brennender Fragen gegen eine schwelende“. In Zeiten, in denen Eliteuniversitäten wegen Anti-Israel-Protesten ihre Tore schließen und neun der zehn Nominierten die Preisverleihung der US-Autorenvereinigung PEN aus Protest gegen Israels Gaza-Einsatz absagen – in Zeiten wie diesen müssen wir uns mit allem auseinandersetzen, was diese zerstörerischen Feuer zum Schwelbrand dimmen könnte. Auch mit einer Terror-Dynastie aus Ramallah. |