Als Disruption bezeichnet man einen Prozess, bei dem ein bestehendes Geschäftsmodell oder ein gesamter Markt durch eine stark wachsende Innovation abgelöst bzw. zerschlagen wird; Produkte, Dienstleistungen oder Technologien werden also ganz oder teilweise verdrängt. Der Unterschied zu normalen, in allen Branchen alltäglichen, Innovationen liegt in der Art und Weise der Veränderung. Während eine Innovation eine Fortentwicklung, eine Anpassung ist, bezeichnet die Disruption einen totalen Um- oder Zusammenbruch des bestehenden Modells. Und das hat natürlich dramatische Auswirkungen für alle Beteiligten. Die Idee disruptiver Innovation in der Wirtschaft lässt sich auf den österreichischen National-Ökonomen und Politiker Joseph Schumpeter zurückführen, der sie bereits Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelte. Der Harvard-Absolvent Clayton Christensen führte 1997 aus, dass jedes noch so erfolgreiche und etablierte Unternehmen eines Tages von einer solchen Existenz beraubenden Revolution bedroht wird. Christensen beschreibt diesen disruptiven Prozess dennoch als notwendig für eine funktionierende Weiterentwicklung des Marktes. Verlierer sind in diesem Fall zumeist große Unternehmen, die ihrerseits selbst mit einer radikalen Innovation ins Geschäft eingestiegen sind. Denn für etablierte Unternehmen sei es geradezu unmöglich, ihr Geschäftsmodell von Grund auf zu verändern. Ausschließlich Neugründer, die wenig zu verlieren und viel zu gewinnen hätten, seien in der Lage, derartige Risiken einzugehen. » „Es ist nicht die stärkste Spezies, die überlebt, auch nicht die intelligenteste; es ist diejenige, die sich dem Wandel am besten anpassen kann.“ « – (Charles Darwin) Vor allem im Bereich des Internets und der neuen, digitalen Medienwelt wird häufiger von Disruption gesprochen, aber auch in der Start-up-Szene gilt es als Zauberwort für Finanzierungszusagen. Doch nicht alles, was irgendwie neu und quer gedacht erscheint, ist auch disruptiv. Viele neue Herausforderer scheitern mit ihren Konzepten an den Etablierten, weil diese einen funktionierenden ökonomischen Burggraben aufbauen und diesen erfolgreich verteidigen konnten. Amazon, der große Disruptor Amazon ist einer der gefürchtetsten und dennoch am meisten unterschätzen Herausforderer. Amazon kommt, sieht und siegt, wie es Julius Caesar schon vor mehr als tausend Jahren vorexerzierte mit seinem „Veni, vidi, vici“. Dabei gelingt auch Amazon nicht alles; das Unternehmen erhält sich allerdings seinen Start-up-Ansatz, bleibt innovativ und bastelt immer an Lösungen, es noch besser zu machen. Doch wenn man bei Amazon erkennt, dass eine der vielen neuen Ideen nicht funktioniert, dann hält man nicht unbeirrt daran fest, sondern beerdigt sie, ganz konsequent. Auch das ist ein wichtiger Teil von Amazons Erfolgsrezept: Die Fähigkeit zu scheitern, sich das Scheitern einzugestehen und dieses Scheitern nicht als Fehlschlag, sondern als Teil des Lern- und Erfolgsprozesses anzusehen. Amazons Weg ist immer ziemlich ähnlich: Man studiert einen Markt, man testet im Kleinen, bastelt solange herum, bis alles zur Zufriedenheit läuft und dann geht man „All-In“. » „Deine Marge ist meine Chance.“ « – (Jeff Bezos) Amazon steigt voll volley ein, macht keine halben Sachen. Man dringt in einen neuen Markt vor und das mit schmalsten Margen. Daher sucht sich Amazon gerne etablierte Branchen aus, in denen der Markt verteilt ist und die Player sich an ihr gemütliches Miteinander gewöhnt haben. Hier platzt Amazon uneingeladen in die Party und unterbietet die Etablierten mit Kampfpreisen. Was einfach ist, weil Amazon nicht auf Gewinn-Maximierung zielt, sondern auf Kunden-Zufriedenheit. Amazon hat ein eigenes Logistik-Netzwerk und kann hier problemlos weitere Produkte andocken. Denn ob man Bücher versendet oder Unterwäsche oder Smartphones ist letztlich vom Verkaufsprozess her dasselbe. Erst Lebensmittel... Frische Lebensmittel sind da schon etwas anderes, denn die kann man nicht einfach tagelang in einem Hochregallager unterbringen, bis sie irgendwer mal ordert. Die müssen täglich frisch sein und sie müssen am selben Tag geliefert werden, damit die Kunden zufrieden sind und der Service nicht zum Rohrkrepierer wird. Amazon optimiert hier seit Jahren dran herum, nicht erst seit der Übernahme von Whole Foods. Das Angebot heißt Amazon Fresh und soll Lebensmittel-Lieferungen alltäglich machen. ... und nun Medikamente Ähnlich wie mit Lebensmitteln verhält es sich mit Medikamenten, auch bei diesen gibt es besondere Einflussfaktoren. Hier ist das Verfallsdatum zwar meist kein K.O.-Kriterium, aber es gibt sehr hohe behördliche Auflagen, wenn man Medikamente über das Internet vertreiben will. Und zwar völlig zurecht, denn mit den teilweise extrem teuren Medikamenten lässt sich natürlich jede Menge Geld ergaunern. Kein Käufer kann überprüfen, ob darin auch wirklich die behaupteten Wirkstoffe sind, oder ob es sich um irgendwo zusammengepantschte Placebos handelt. Daher muss der Gesetzgeber sicherstellen, dass nur seriöse Händler, die die Herkunft der Medikamente nachweisen können und lückenlos dokumentieren, auf die Kunden losgelassen werden. In Deutschland läuft die Arzneimittel-Versorgung über Apotheken und ist im Apotheken-Gesetz festgeschrieben. Drogerien dürfen daher keine verschreibungspflichtigen Medikamente verkaufen. Und selbst Online-Apotheken stoßen hierzulande schnell an rechtliche Grenzen, wie Shop-Apotheke oder die DocMorris-Mutter „Zur Rose“ schon mehrfach leidvoll erfahren mussten. Dennoch machen beide gute Geschäfte und gerade in Corona-Zeiten kennt das Wachstum kaum Grenzen. Doch nun wird Amazon zur Online-Apotheke. Der Online-Gigant hatte bereits vor einigen Jahren die US-Online-Apotheke Pillpack übernommen und es war nur eine Frage der Zeit, bis Amazon sich in den Markt der Medikamenten-Versorgung vorwagt. Und genau das geschieht nun in 46 der 50 US-Bundesstaaten. Künftig können Amazon-Kunden über "Amazon Pharmacy" verschreibungspflichtige Medikamente online bestellen. Dabei bietet Amazon große Preistransparenz, indem Kunden im Warenkorb angezeigt wird, ob es billiger ist, mit der Versicherung abzurechnen und einen Eigenanteil zu zahlen, oder ob sie die Arzneien selbst kaufen – mit Rabatt. Prime-Abonnenten sollen hier bis zu 80 Prozent Preisabschlag erhalten. Genial einfach und einfach genial ist, dass Ärzte die Rezepte schon während der Patientenberatung direkt digital an Amazon weiterleiten können. Die Angst geht um Für die Online-Apotheken, aber auch die stationären Apotheken ist Amazons Offensive das Armageddon-Szenario. Zwar reagieren die Branchengrößen mit Zweckoptimismus und spielen das Problem herunter, indem sie behaupten, das würde auf ihr Business kaum Auswirkungen haben. Aber das war bisher in allen Branchen so, wo Amazon neu antrat. Und sie alle haben Amazon zunächst unterschätzt, dann gefürchtet und schließlich oftmals nur noch kapitulieren können. Paradebeispiel ist hier James Kehoe, CFO von Walgreens Boots Alliance. Der hat die Auswirkungen des neu eingeführten Online-Apothekendienstes von Amazon auf der Wolfe Healthcare Conference geradezu klassisch heruntergespielt. Kehoe merkte an, dass der Service von Amazon derzeit nur per Post angeboten wird, was etwa lediglich 10 Prozent der in den USA abgefüllten Rezepte betreffe. Er ist sich daher sicher, dass die Menschen den stationären Drogerien treu bleiben. Hierzu führt er ergänzend als Beispiel an die Corona-Pandemie an und fragt, ob Eltern eines mit COVID-19-infizierten Kindes wohl lieber die Medikamente sofort in einer Apotheke kaufen wollten oder ein paar Tage darauf warten, dass sie von Amazon geliefert werden. Ich finde diese Aussage sehr bezeichnend. Natürlich will niemand warten, wenn es um Leben und Tod geht. Aber ist das der Normalfall, der sich ständig und alltäglich in den Walgreens-Stores abspielt? Wohl kaum... Daher passt das Beispiel auch überhaupt nicht und geht am Kern des Problems vorbei. Denn CVS Health, Walgreens und die anderen verdienen ihr Geld nicht mit Corona-Impfstoffen und -Medikamenten, sondern mit rezeptfreien und verschreibungspflichtigen Medikamenten und Nahrungsergänzungsmitteln. Und hiervon ist der Großteil nicht für die Akutversorgung gedacht, weil sich jemand in den Finger geschnitten, den Magen verdorben oder einen Schnupfen eingefangen hat. Amazon zielt auf die regelmäßige, vorausschauende Bestellung von Medikamenten, Arzneien, Vitaminen, Nahrungsergänzungsmitteln. Das kann man bei einen „normalen“ Amazon-Einkauf ganz nebenbei miterledigen. Und genau hier liegt das Problem für CVS, Walgreens & Co. Die bauen ihre Stores auch seit Jahren zu kleinen Einkaufszentren aus, wo man neben Pillen und Pflastern Socken, Waschmittel und sogar Nahrung kaufen kann. Man kann das mit den deutschen Tankstellen vergleichen, die am Benzin-Verkauf auch schon lange nichts mehr verdienen, sondern vom überteuerten Verkauf in den angeschlossenen Shops leben. Diese „Nebenbei-Verkäufe“ laufen hervorragend, aber eben nur, wenn die Kundschaft in den Laden kommt. Kauft sie stattdessen bei Amazon ein und bekommt dort alles, was sie auch bei Walgreens bekommt, aber eben auch noch günstiger und kostenlos nachhause geliefert, dann ist das ein Szenario, über das sich der Walgreens-CFO durchaus ernsthafte Gedanken machen sollte. Das würde ich als Aktionär jedenfalls von ihm erwarten! USA ist nicht Deutschland Nun startet „Amazon Pharmacy“ erstmal in den USA. Das muss die deutschen Apotheken und deren Online-Konkurrenz also nicht schrecken, könnte man meinen. Oder vielleicht doch? Shop-Apotheke und DocMorris kämpfen seit Jahren mit Widerständen seitens der Politik, des Gesetzgebers und der Gerichte, weil hierzulande die Apotheken eine enorm starke Lobby haben und Teil des etablierten Gesundheitsnetzwerks sind. Apotheker sind keine reinen Medikamentenverkäufer, sie sind in vielen Fällen Ratgeber und medizinische Fachleute, die eine Behandlung beim Arzt ergänzen oder sogar ersetzen können. So war es jedenfalls früher. Inzwischen drängen immer mehr Apotheken-Ketten in den Markt, bei denen keine Apotheker mehr am Tresen stehen, sondern Verkäufer. Das ist natürlich für die Apotheken deutlich günstiger, weil man kein teures Fachpersonal benötigt, sondern eigentlich nur jemanden, der das Kassenprogramm ordentlich bedienen kann. Dieses Aufweichen des ehernen Apotheken-Versorgungsprinzips ist allerdings auch das Einfallstor für die Online-Apotheken, denn den bloßen Verkauf bekommen die ja mindestens genauso gut organisiert. Nur die ursprünglich mal vorgesehene sachkundige Beratung durch einen Apotheker eben nicht. Da die Apotheken diese aber auch nicht mehr konsequent anbieten (müssen), kann dies folgerichtig auch keine unüberwindbare Hürde für Online-Apotheken mehr sein. Schaut man auf die Börsenkurse der Online-Apotheken erkennt man schnell, dass genau dieses Szenario in den letzten Jahren gespielt wurde. Mit einem Extraschub durch Corona. Doch das Szenario könnte sich als „Optimum Case“ herausstellen, als zu ideal, um noch länger realistisch zu sein. Der Markteintritt von Amazon wird alles verändern. Zwar ist Amazon mit seinem Angebot „Amazon Pharmacy“ in Deutschland noch nicht aktiv, aber das wird bald passieren. Und die Hürden sind nicht mehr besonders hoch. Dank DocMorris, dank Shop-Apotheke und all den anderen. Die haben nämlich die ganze Vorarbeit längst erledigt! Was die dürfen, darf auch Amazon. Und genau das ist das Problem für Shop-Apotheke und DocMorris / Zur Rose. Ihre Kunden sind nicht dort Kunde, weil die Aspirin-Tabletten dort besser schmecken oder schöner aussehen. Sie kaufen dort online, weil der Einkauf bequem(er) ist und kostengünstiger als wenn man sich ins Auto setzt und zur Apotheke fährt – wo man dann immer öfter auch noch vertröstet wird, weil die Medikamente nicht vorrätig sind und erst bestellt werden müssen. Statt ein paar Klicks im Internet darf man sich also gleich zweimal auf die Reise machen, was Geld kostet und Zeit. Shop-Apotheke und DocMorris bieten also gegenüber stationären Apotheken 3 entscheidende Vorteile: Zeitersparnis, Bequemlichkeit, Preisvorteile. Und genau das sind die Kernkompetenzen von Amazon! In diesem Bereich ist Amazon kaum zu schlagen! Und Amazon hat noch einen großen Vorteil gegenüber der Konkurrenz: Amazon hat die Kunden schon! Weltweit gibt es mehr als 150 Millionen Prime-Kunden. Wenn diese neue Socken, AirPods und Kleiderbügel einkaufen, weshalb sollten sie dann nicht auch Aspirin und ihr Blutdruckmittelchen mit in den Warenkorb legen, sondern sich stattdessen hierfür extra bei Shop-Apotheke einloggen, um die Medikamente dort zu ordern? Da müssten die Lieferzeiten dort schon viel besser sein oder die Preise viel niedriger als bei Amazon. Wie wahrscheinlich dies ist, kann sich jeder selbst ausmalen. Amazon.com, Inc. (ISIN: US0231351067) | | WKN / Kürzel | Börsenwert | KGV 20e/21e/22e | Kurs | 906866 / AMZN | 1,56 Billionen USD | 90 / 69 / 49 | 3.122 USD | Mein Fazit: Der Start von „Amazon Pharmacy“ in den USA bedeutet nicht das Ende für die Apotheken, Drogerien und Online-Apotheken, weder in den USA noch in Deutschland. Aber es kann eine existenzbedrohende Entwicklung werden, die diese nicht ignorieren oder auf die leichte Schulter nehmen dürfen. Amazon braucht keinen schnellen Erfolg, Amazon muss nicht innerhalb weniger Monate schwarze Zahlen schreiben mit der neuen Sparte. Amazon erzielt in jedem Quartal zweistellige Milliarden-Cashflows, seine finanzielle Feuerkraft ist kaum zu bezwingen. Und auch wenn Amazons neue Sparte noch nicht aus allen Rohren feuert, so sind doch die stationären Apotheken und ihre Online-Herausforderer ins Visier geraten. Die Frage ist nicht mehr, ob Amazon abdrückt, sondern nur noch wann. Und ob die Etablierten dann für den Einschlag gerüstet sind, oder die volle Breitseite kassieren mit den entsprechenden Folgen. So oder so, ihre Aussichten haben sich durch den Start von „Amazon Pharmacy“ jedenfalls deutlich eingetrübt. Die heutige Ausgabe entstand wieder in Zusammenarbeit mit Michael C. Kissig, Value Investor und Betreiber des Blogs „iNTELLiGENT iNVESTiEREN“. | | Hinweispflicht nach §34b WpHG: Der/die Verfasser ist/sind in ein oder mehreren der oben genannten Wertpapieren/Basiswerten zum Zeitpunkt des Publikmachens des Artikels investiert: Amazon. Es können daher Interessenskonflikte vorliegen. Die in diesem Artikel enthaltenen Angaben stellen keine Aufforderung zum Kauf oder Verkauf von Wertpapieren dar.
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