nichts ist mutiger als der Kampf wider die Jägerzäune. Und kaum jemand hat diesen so rücksichtslos und intensiv geführt wie der Literaturkritiker, Essayist, Journalist, Intellektuelle und Antimoralist Karl-Heinz Bohrer: „Harmloser, aber nicht weniger hässlich als Gesicht der Provinz sind die heimlichen Rücksichten ums Eigenheim mit Jägerzaun an Rhein, Main, Neckar und Donau“, schrieb Bohrer schon vor 30 Jahren in der damals von ihm herausgegebenen Zeitschrift Merkur. Vor zwei Tagen ist Bohrer, dieser „brillante Verachter“, wie der Philosoph und Cicero-Autor Alexander Grau ihn nennt, in seiner Londoner Wahlheimat verstorben. Grau würdigt den 1932 in Köln geborenen Bohrer als einen, der einen unentwegten Feldzug gegen die deutsche Provinzialität geführt hat; ein Schöngeist, der einer allzu seltenen Spezies angehört hat: „Ein Leben lang begleitet hat ihn die Faszination für das Schöne und der unbedingte Wille, es gegen alles Durchschnittliche und Banale zu verteidigen – gegen die Moralinsauren, gegen die Tumben und Pragmatischen. Der Kampf für die Autonomie der Kunst gegenüber Ethik, Politik und Ideologien aller Art markiert eine der Konstanten seines Schaffens. Insofern war Karl-Hein Bohrer einer der wenigen Geistesdandys und Ästhetizisten, die Deutschland hervorgebracht hat.“ Weniger schön, dafür mit vielleicht ähnlicher Inbrunst führt auch der Münchner Philosoph Christoph Lütge seinen ganz eigenen Kampf gegen die Jägerzäune. Diese aber umzingeln bei Lütge nicht die Eigenheime an Rhein oder Donau; sie engen die Fertighäuser und schnell zusammengezimmerten Tiny Houses in unserem eigenen Bewusstsein ein. Lütge nämlich war bis Anfang Februar 2021 noch Mitglied im Bayerischen Ethikrat. Und als dieser gebeten wurde, die Corona-Maßnahmen der bayerischen Landesregierung philosophisch zu unterfüttern, vertrat Lütge unverhofft eine wissenschaftliche Position, die der Landesregierung zuwiderlief. Statt die Maßnahmenpolitik hübsch einzufrieden, bestritt er die Auslastung der Intensivstationen und unterstellte dem Virologen Christian Drosten eine „unverantwortliche Angstrhetorik“. Das Ergebnis: Lütge musste den Hut nehmen. Für Cicero.de aber darf der Philosoph die geistigen Jägerzäune noch einmal auseinanderschrauben und in aller Ruhe sezieren. In dem Interview, das wir mit Lütge geführt haben, stößt der auf Wissenschaftler, die sich willfährig in den Dienst der Politik nehmen lassen, auf fehlenden Mut vor der offenen Debatte und auf Druck gegenüber der abweichenden Meinung. Lütges Fazit hätte fast schon aus der Feder von Karl-Heinz Bohrer stammen können: „Gerade wir Deutschen sind unglaublich vorsichtig und haben mit dieser Strategie eine Menge Kollateralschäden erlitten.“ Ein schönes Wochenende! Ihr Ralf Hanselle, stellvertretender Chefredakteur |