  | | |  | | 22. März 2024 | | Deutscher Alltag | | | |
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| | | | | Pessimismus ist der Geschmack der Gegenwart, nicht nur bei den Ãlteren. Die einen fürchten die Zukunft wegen der Klimakatastrophe und weil die anderen diese Katastrophe nicht oder zu wenig fürchten. Die anderen finden die Gegenwart furchtbar, weil Kriege toben, die Moral verfällt, jedenfalls nach ihrer Einschätzung, und alles teurer wird. Wenn man sich im kleinen Kreise der eigenen Bekannten umhört, was als schlecht empfunden wird, bekommt man schnell eine ganze Liste zusammen. Man könnte meinen, die ganze Nation bräuchte hin und wieder etwas Beruhigung, spirituell oder gar medikamentös.
Als Lebenserfahrenem gerät einem bei so etwas ein Song von den Rolling Stones aus dem Jahr 1966 ins innere Ohr, âMotherâs Little Helperâ. 1963 war Valium, die bald berühmte Beruhigungspille, auf den Markt gekommen. Mick Jagger und Keith Richards setzten dem rasend schnell populär werdenden Medikament, das sie mit der damals üblichen, als witzig empfundenen Alltagsmisogynie als âMutters kleine Helferâ bezeichneten, ein musikalisches Denkmal. Die gestresste Frau sagt zum Arzt: âDoktor, geben Sie mir ein paar mehr davon.â Und als sie aus der Praxis kommt, wirft sie die auch ein: âoutside the door, she took four moreâ, denn es ist schon elend, wenn man alt wird, âwhat a drag it is getting oldâ.
Manchmal allerdings widerfährt einem auch ein Aha-Erlebnis. Man braucht keine Downers (und auch keine Uppers), und man kann gegen den Pessimismus mit dem Stärksten angehen, was man hat: mit seiner eigenen inneren Kraft. Ja, das klingt auf den ersten Blick wie Motivations-Mumbojumbo und Selbstoptimierungszeug. Ist es aber nicht, schon gar nicht von mir. Ich habe in meiner zu langen Zeit als Manager-Tier zu häufig erlebt, wie man mich (und andere auserwählte Opfer) bei sogenannten Führungskräftetagungen mit Baumstammzersägen, Stuhlkreisen, BogenschieÃen, White-Boards-Beklebungen und ähnlichen Dingen motivieren und verbessern wollte. Ich mag Menschen, seitdem ich nicht mehr ihr Chef bin, mehr als vorher. Aber wenn mich Leute in roten Turnschuhen dazu bringen wollten, alle zu duzen und den Scrum mit ihnen zu machen, war ich sicher, ein Fremder unter Fremden zu sein.
Das Aha-Erlebnis: Zurzeit ist Lucinda Williams auf Europatournee, vor ein paar Tagen war sie auch in München. Sie ist eine Country-Songschreiberin mit einem Rock ânâ Roll-Herzen, wobei man bei ihrer Musik nicht an Country mit Fideln, Herzschmerz und Yeeehaw denken sollte, sondern an das, was irgendwie schwammig und vieles offenlassend, als Alt Country, als alternative Countrymusik, bezeichnet wird. Sie ist groÃartig, mittlerweile 71 und stammt aus Lake Charles in Louisiana. Das ist nicht weit von der Grenze zu Texas, liegt fast am Golf von Mexiko, und wenn nicht die Gefahr bestünde, dass der unangenehme Teil der Amerikaner im November wieder den Lügner Trump zum Präsidenten wählt, würde ich gerne noch mal in diese Gegend reisen. Sollte es nicht mehr klappen, behalte ich eben den sumpfigen, bluesigen Süden nur in der Erinnerung. Jedenfalls ist Lucinda Willams von dort, und sie hat eine raue Stimme mit einem Timbre, das selbst Sven oder Leonie die roten Turnschuhe ausziehen würde.
Im November 2020 hatte Williams einen Schlaganfall. Sie musste lernen, wieder zu laufen, was ihr einigermaÃen glückte, Gitarre spielen kann sie leider nicht mehr. Sie wird von ihrem Mann ans Mikro geführt. Dann steht sie da, zwei Stunden lang, hält sich am Mikroständer fest â und singt so, als gäbe es nichts anderes auf der Welt. Sie singt von den Geistern auf dem Highway 20, von der Jukebox in der Bar an der Ecke, die ihre Einsamkeit vertreibt, und davon, dass manchmal selbst die Gedanken Staub sind (das ist ein Gedicht ihres Vaters, der an ländlichen Community Colleges Literatur unterrichtete, was kein leichter Job ist). Sie singt, weil sie nicht aufgegeben hat und nicht aufgeben will. Das ist die innere Stärke, die ich meine.
Es gibt sehr viele wie Lucinda Williams. Nein, nicht als Sängerin und Songwriter, da ist sie einmalig und gebenedeit. Aber es gibt sehr viele Menschen, die nicht aufgeben und die, wie man so schön sagt, das Beste auch aus Situationen machen wollen, die nicht gut sind. Solche, die andere pflegen und sich selbst dabei manchmal so zurücknehmen, dass ihnen nicht viel an eigenem Leben bleibt, weil das andere Leben so fordernd ist. Solche, die ihre Sucht überwinden und doch fürchten, sie könnten irgendwann einmal wieder rückfällig werden. Solche, die sich für andere engagieren, in Nachbarschaftsinitiativen, als Integrationshelferinnen, als Vorleser im Hospiz. Aber eben auch solche, die sich nicht unterkriegen lassen wollen von den Folgen eines Schlaganfalls, von MS oder von einer kaputten Niere. Manchmal ist man zu schwach, um stark genug zu sein. Manchmal aber schafft man es, und das kann dann geradezu glorios sein, so glorios wie ein Konzert von Lucinda Williams.
Die übrigens ist alles andere als eine Verdrängerin oder Weichzeichnerin. Williams fand das Leben als solches nur manchmal toll, oft traurig und voller Einsamkeit. Blues eben. Aber sie hat es trotzdem immer wieder gefeiert â und tut das bis heute. Genau das ist nicht der Geschmack des Pessimismus. | |
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