Kurt Kister gibt Einblick in deutsche Alltagsmomente
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2. Dezember 2022
Deutscher Alltag
Guten Tag,
auf Deutsch heißt das Phänomen „Erinnerungstäuschung“, auf Französisch, und das klingt eindeutig besser, heißt es Déjà-vu. Das bedeutet: schon einmal gesehen. Und es bezeugt außerdem, dass vieles, was sich auf Französisch oder Italienisch gut, manchmal sogar leicht anhört, im Deutschen so wirkt, als entstamme es einer Verfügung des Landratsamts oder dem Versuch eines Betriebswirts, poetisch zu sein. Selbst die große, wirkliche Poesie ist hierzulande sprachlich oft sehr ernsthaft, wenn sie nicht gerade von Robert Gernhardt stammt. „Jede dumpfe Umkehr der Welt hat solche Enterbte, / denen das Frühere nicht und noch nicht das Nächste gehört“, schrieb Rainer Maria Rilke in der siebten seiner Duineser Elegien und hätte damit fast „Fridays for Future“ meinen können. „Ich beklage mich nicht. Ich beklage die, / denen mein Zweifel gleichgültig ist“, heißt es in Hans Magnus Enzensbergers Gedicht „Zweifel“. Kann man auch auf die Klimaprotestler beziehen, wenn man möchte. Ein gutes, ernsthaftes, deutsches Gedicht ist eben überzeitlich und multitaskingfähig.

Eigentlich wollte ich ja über Erinnerungstäuschung schreiben, bin aber kurz bei der Poesie hängengeblieben. Das mag damit zu tun haben, dass in meiner Lieblingszeitung, der SZ, manchmal zu wenig Poesie zu finden ist, höchstens noch im Sportteil, da aber dann in kürzeren Hosen. Dafür ist zwischen den nicht mehr so vielen gedruckten Zeitungszeilen der digitale Betriebswirt zu erahnen, so wie man hin und wieder, wenn man an einem Haus vorbeigeht, hinter einer nicht ganz geschlossenen Jalousie die Silhouette eines Menschen wahrnimmt. Es könnte ein Freund sein – vielleicht aber auch der Mörder. Es gibt Leute, hört man neuerdings auch aus Berlin, die daran glauben, eine Zeitung werde besser, wenn sie kleiner, aber dicker, mit kürzeren Texten werde. Dazu vielleicht Rilke in der fünften Elegie: „Und plötzlich in diesem mühsamen Nirgends, plötzlich / die unsägliche Stelle, wo sich das reine Zuwenig / unbegreiflich verwandelt – , umspringt / in jenes leere Zuviel“.

Jetzt aber wirklich zur Erinnerungstäuschung. Ein solches psychologisches Déjà-vu tritt ein, wenn man etwas erlebt und glaubt, man habe es genau so schon einmal erlebt. Die Vernunft sagt: Das ist nicht möglich, denn selbst wenn einem am Brenner zweimal der Geldbeutel geklaut worden ist, waren es unterschiedliche Geldbeutel in unterschiedlichen Jahren zu unterschiedlichen Zeiten. Wahrscheinlich waren es auch unterschiedliche Diebe. Die Kulisse aber – eine Kneipe am Brenner – und der Hergang im weiteren Sinne sind so ähnlich, dass man ein Déjà-vu-Erlebnis hat, das aber eine Erinnerungstäuschung ist. Ganz ähnliche Erfahrungen macht man manchmal bei Begegnungen mit Menschen, bei bestimmten Gesprächen oder sonstigen, im Landratsamtsdeutsch: Abläufen.

In diesen Tagen habe ich wieder mal eine Art halb berufliches Déjà-vu-Erlebnis. Die Innenministerin kündigte an, dass man in Zukunft Nicht-Deutschen, die fünf oder in bestimmten Fällen auch nur drei Jahre in Deutschland leben, die sogenannte Einbürgerung schneller ermöglichen wolle. Die Debatte, die darauf folgte, läuft ziemlich genauso ab, wie mindestens drei solcher Debatten zu Zeiten von Kohl, zu Zeiten von Rot-Grün und dann zu Zeiten Merkels abgelaufen sind. Die einen fürchteten um die Substanz der Nation und prognostizierten große Migrationswellen; die anderen warfen den einen vor, sie seien hinterwäldlerisch, moralisch falsch drauf und würden nicht anerkennen wollen, dass Deutschland ein Einwanderungsland sei. Man hat das wirklich alles in allen Facetten schon gehört – déjà-entendu. Zum Teil sind es immer noch dieselben Menschen, die schon in den Neunzigern den Untergang des Abendlandes befürchtet haben, sei es wegen der Migranten (die Konservativen) oder sei es wegen der angeblich grundstürzenden Veränderung des Asylrechts (die Progressiven).

Ich denke mir, dass es nicht schlecht wäre, wieder einmal, immer wieder darüber nachzusinnen, was „Staatsangehörigkeit“ heute bedeutet. Ja, Deutschland ist ein Einwanderungsland. Und nein, das Blut bestimmt nicht, wer oder was deutsch ist. Aber bei der Innenministerin und dem Kanzler klingt es so, als gehe es eigentlich um kaum viel mehr als um die Zugehörigkeit zur Firma Deutschland, weil man ja Arbeitskräfte braucht und die sich, sagt Scholz, am besten über die Arbeit integrieren. Ist Deutschland also eigentlich nur so etwas wie ein noch größerer Siemens-Konzern und sind Deutsche, vielleicht ein paar Ebenen höher oder seitwärts, so was wie Siemensianer?

Gibt es noch so etwas wie eine Nation, und was macht die aus? Warum finden viele derer, denen ihre deutsche Staatsangehörigkeit kaum mehr bedeutet als ein Passeintrag, den von sehr starker nationaler Empfindung, ja von Nationalismus getriebenen Kampf der Ukraine so bemerkenswert? Sind solche Gefühle hierzulande vielleicht auch eine Projektion? Sollte man als Deutscher neuer Generation Verantwortung für Auschwitz empfinden – oder eher für Deutsch-Südwest? Oder für beides? Oder gar nicht, weil man ja biografisch und historisch nichts mit den Tätern zu tun hatte, außer dass man jetzt dieselbe Staatsangehörigkeit wie Reinhard Heydrich hat? Und was ist eigentlich mit Rilke und Enzensberger?

Ach, es gäbe so viel nachzudenken, zu diskutieren. Wird aber nicht so werden, weil man sich wieder gegenseitig in Gut und Böse einteilen wird. Die einen sagen, dass die anderen nicht die Ängste der Bevölkerung berücksichtigen. Und die anderen sagen, dass die einen diese Ängste erst schaffen und schüren. Ich hätte gerne mal ein Jamais-vu-Erlebnis, so ein Gefühl, es entwickle sich gerade etwas, was ich noch nicht erlebt habe.
Kurt Kister
Redakteur
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