Kurt Kister gibt Einblick in deutsche Alltagsmomente
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8. Dezember 2023
Deutscher Alltag
Guten Tag,
diese Woche gab es zwei neue Briefmarken. Das klingt zunächst wie eine dieser Mitteilungen, von denen man früher gesagt hatte, sie seien so wichtig, wie wenn in China ein Sack Reis umfällt. Das mit dem Sack Reis in China sagt man heute nicht mehr so oft. Einerseits könnten empfindliche Naturen die Erwähnung von China in so einem Zusammenhang als respektlos, gar rassistisch verstehen, weil die Konnotation „China ist gleich weit weg, wurschtegal“ eine typisch eurozentrische, nahezu kolonialistische Sichtweise widerspiegelt, die nicht einmal Thomas Gottschalk mehr pflegt, jedenfalls nicht nach dem jüngsten Shitstorm im Social-Media-Glas über das, was er nur daheim sagt.

Andererseits muss man spätestens seit der Corona-Nummer befürchten, dass sich in chinesischen Reis- oder anderen Säcken Dinge befinden könnten, deretwegen dann in ein paar Monaten Leute „Freiheit für alle“ an die Bahnunterführung sprühen, und Karl Lauterbach Gesundheitsminister wird. Also halten wir fest, dass es nicht egal ist, wenn ein Sack Reis in China umfällt. Im Gegenteil, ein solches Ereignis könnte Anlass für ein dreitägiges Tanz- und Diskursfest im Haus der Kulturen in Berlin werden oder ein Konzeptkatalysator für die Documenta 16.

Trotzdem gab es diese Woche zwei neue Briefmarken. Seitdem CDU und FDP (ja, liebe Kinder, die haben immer wieder mal zusammen regiert und würden es jetzt gerne wieder tun) zum 1. Januar 1995 die Bundespost privatisiert haben, gibt nicht mehr die Post, sondern das Finanzministerium die Briefmarken heraus. Bevor sich jetzt wieder Leserinnen und Leser darüber beschweren, dass ich immer auf Christian Lindner herumhacke, stelle ich fest, dass ich nichts dafür kann, dass Lindner Finanzminister und damit auch oberster Briefmarkenherausgeber ist. Wäre, sagen wir, Annalena Baerbock Finanzministerin und betriebe eine feministische Finanzpolitik, würde ich mich in solchen Texten ebenfalls mit ihr beschäftigen.

Die beiden neuen Briefmarken jedenfalls stammen aus der Serie „Helden der Kindheit“ und zeigen Käpt’n Blaubär für 85 Cent sowie Pinocchio für 100 Cent. Dies wirft zwei Fragen auf: 1) Wie ist die Lage der Briefmarke heute ganz grundsätzlich? 2) Was sagt die Motivwahl über die Politik aus?

Die Lage der Briefmarke ist ernst. Im Vergleich zu gar nicht so viel früher versenden nur noch relativ wenige Menschen mit Briefmarken frankierte Postsachen. Das Klugtelefon ist heute Kugelschreiber, Briefpapier, Briefmarke und Briefkasten in einem. Wer noch Marken, gar angeleckt, auf eine Karte oder einen Brief klebt, tut dies, weil er oder sie im vergangenen Jahrhundert geboren wurde – oder weil es ein Statement ist, so wie wenn man wieder Vinylplatten kauft oder immer noch den gedruckten Spiegel liest. Ich kann das gut verstehen, weil mir etliche Geister der Vergangenheit lieber sind als manche Gespenster der Gegenwart. Und außerdem war ich als Kind ein begeisterter Briefmarkensammler. Ich ließ mir sogenannte Auswahlalben von Briefmarkenversendern schicken, die davon lebten, dass Hunderttausende Großmütter ihren Enkeln zwölf Mark gaben, um bunte Vogelmarken aus Malawi oder Saurier aus Tansania zu kaufen.

Briefmarken sind also in erster Linie was für Sammler. Ich mutmaße, dass es nicht so viele Philatelistinnen gibt, so wie auch nicht sehr viele Modelleisenbahnerinnen existieren.

Politisch gesehen ist Pinocchio gerade eine sehr gute Motivwahl. Man weiß, das war der kleine Holzbub, der zum Leben erwachte. Weil er gerne die Unwahrheit sagte, wuchs seine Nase immer mehr. Nun ist die freihändige Interpretation dessen, was Wahrheit ist, kein Privileg bestimmter Parteien. Mit fielen sofort zehn, ach was, zwanzig Namen von Fraktionschefinnen, Ministerpräsidenten, Ministern und Innen sowie Abgeordneten (m/w/d) ein, die, wäre ihnen ein Pinocchio-Schicksal beschieden, wegen der Länge ihrer Nase mit Nasenstützen im Kabinett, im Bundes- oder Landtag sitzen müssten. Notabene, die Nasenstützen beschränkten sich nicht nur auf die Politik, sondern fänden auch in der Wirtschaft, den Medien oder vielen freien Berufen reißenden Absatz.

Ohne Käpt’n Blaubär auf die Seite schieben zu wollen: Pinocchio ist geradezu der ideale Held der Kindheit am Ende dieses Jahres. Auch er würde behaupten, nicht Kanzler werden zu wollen, auch er hätte vergessen, was er mal im Schulranzen hatte oder mit welchem Cum-Ex-Banker er sich warum getroffen hatte, und selbstverständlich würde er von sich behaupten, er könne es, die anderen aber, vor allem der Olaf, nicht. Und natürlich würde er auch sagen, er sei der tollste SPD-Chef und wenn es sein sollte, auch die tollste SPD-Chefin.

Im Übrigen, weil wir gerade darüber reden: Malawi und andere Staaten haben seinerzeit einen durchaus achtbaren Teil ihrer Deviseneinnahmen aus dem Verkauf von bunten Briefmarken erzielt. Weil jetzt kreative Lösungen für den Haushalt 2024 gefragt sind: Mit einer Briefmarkenoffensive ließe sich eine gerichtsfeste Ergänzung des Etats gewinnen. Beliebte Motive, auch weltweit, könnten etwa Tiere, Sportler, Waffen, Niedlichkeitsfiguren aus Manga oder Märchen, Diktatoren (dürfte man nicht so nennen) und schöne Landschaften sein. Wenn man dann noch auf jede Marke „Limited Edition“ schriebe und die Nennwerte deutlich anheben würde, könnte das vielleicht sogar die Ampelkoalition retten.
Kurt Kister
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