| | | | | 9. Mai 2025 | | Deutscher Alltag | | | |
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| | | | | die FAZ ist eine Zeitung, die man, gäbe es die SZ nicht, erfinden müsste. Jüngst war dort in einer Buchrezension von Andreas Kilb der schöne Satz zu lesen: âEr erzählt die Geschichte, als hätte er sie selbst erlebt.â âErâ ist der Historiker Gerd Krumeich, gerade 80 geworden, der hervorragende Bücher über den Ersten Weltkrieg und dessen Folgen geschrieben hat. Interessant aber ist Kilbs Gedanke, jemand, der dies und das selbst erlebt hat, könne als Historiker auch besser darüber erzählen. Nun kommt es beim Erzählen zunächst einmal darauf an, ob jemand überhaupt erzählen kann. Wenn einer oder eine beim Tod Alexander des GroÃen oder bei der Nichtwahl von Friedrich Merz dabei war, fördert dies möglicherweise den Drang, das zu erzählen, nicht aber unbedingt die Kompetenz, dies zu tun. Menschen, die nicht oder nur mäÃig mit Worten umgehen können, mögen die tollsten oder die übelsten Erlebnisse gehabt haben. Dennoch sind ihre Erzählungen oft seltsam langweilig, noch dazu, wenn sie sich wiederholen. Wer hätte nicht schon den Onkel oder die Cousine erlebt, die bei jedem Familienevent die Geschichte von ihrem Fünfer im Lotto oder ihrem Heldenmut im Angesicht des Abteilungsleiters berichten? Diese Geschichten verändern sich mit der Zeit, oft gewinnen sie an Farben, die der Augenzeuge damals nicht sah, vielleicht auch, weil sie so nicht existierten. Die Wahrnehmung dessen, was jemand erlebt hat, verändert sich oft mit der Häufigkeit der Wiedergabe seiner Wahrnehmung. Juristen, Polizistinnen, Historiker oder Journalistinnen, die auf Augenzeugenschaft angewiesen sind, kennen diesen Effekt nur zu gut. Viele, die etwas erlebt haben, glauben sich auch gegenüber denen, die das nicht erlebt haben, im Recht â zumal wenn Nichtzeugen über die Erlebniswelt der Zeugen reden oder schreiben. Mein erster Chefredakteur war Jahrgang 1925 und hatte den Krieg als junger Mann mitgemacht. Als ich 1984 mal über die Ardennenschlacht 1944 (Jahrestag!) schrieb, sagte er hinterher in der Konferenz, das sei ja ganz ordentlich gewesen, aber an manchen Details merke man eben, dass ich ânicht dabei gewesenâ sei. Er schon. In dem âich schonâ schwang auch mit, dass ich als Nachgeborener eben manches einfach nicht verstehen könne. Diese Perspektive kenne ich mittlerweile von mir selbst. Wenn wieder mal eine mitteljunge Kolumnistin oder ein Youtuber über die Babyboomer herzieht, ist meine erste Reaktion manchmal: Die hat keine Ahnung, aber eine groÃe Klappe. Manchmal ist das so. Ãfter aber hat sie eine andere Ahnung, eine andere Wahrnehmung, und sie sieht Dinge, die sich 1976 oder 1984 ereigneten, anders als ich. Und sie pauschalisiert anders als ich. Ja, das hat vielleicht auch damit zu tun, dass sie damals noch gar nicht geboren war. Würde man aber nur das Selbsterlebte zum MaÃstab der Dinge machen, gäbe es wenig Literatur, nicht viel Kunst und keine Geschichtsschreibung. Die Augenzeugin, der Zeitzeuge tragen Subjektives zum Verständnis der Vergangenheit bei. Sie berichten aus eigener Betroffenheit, was âTodesmarschâ, âStalingradâ oder âBlockadeâ bedeutet haben. Diese erlebte Geschichte ist ein paar Jahrzehnte lang Gegenwart, bevor sie allmählich dahinschwindet. Als ich jung war, lebten noch viele Menschen, die den Ersten Weltkrieg als Soldaten, an der Heimatfront oder sonst wo, mitgemacht hatten. Die Zeile âTeilnehmer zweier Weltkriegeâ fand sich in nicht wenigen Todesanzeigen bis in die Achtzigerjahre. Heute sind die letzten Zeitzeugen, die den Zweiten Weltkrieg als halbwegs Erwachsene erlebt haben, hoch in ihren Neunzigern. Die Vielzahl von Kriegskinder- und Kriegsenkelbüchern mag damit zusammenhängen, dass die schon zitierten Babyboomer â und das sind viele â erkennen, dass jetzt ihre Generation Zeitzeugenstatus gewinnt. Oft wissen sie wenig, was ihre Eltern und GroÃeltern bis 1945 getan haben. Und sie selbst? Wie lange ist der Mauerfall her? 36 Jahre? Wer den als MittdreiÃiger erlebt hat, ist jetzt älter als 70. Eindeutig Zeitzeugenalter. Das Beispiel Mauerfall zeigt, wie vielfältig die Erinnerungen derer sind, die ihn erlebt haben. Viele von ihnen haben darüber geschrieben, in Büchern oder in Artikeln, haben Posts ins Netz gestellt oder waren bei Zeitzeugen-Veranstaltungen (doch, die gibtâs). Aus alledem ist kein Bild âaus einem Gussâ â ein in Berlin gern gebrauchter, neoheroischer Begriff â geworden, sondern eine pointillistische, widersprüchliche GroÃerzählung eines Ereignisses, das doch so viele erlebt haben, von dem so viele âAhnung habenâ. Die Zeugen und Zeuginnen sind von dem, was sie erlebt haben, überzeugt (sic!). Sie stoÃen allerdings auf viele andere, die das Gleiche erlebt haben, aber es völlig anders erzählen. Insofern ist es vielleicht nicht schlecht, wenn ein Historiker die Geschichte, die er erzählt, nicht selbst erlebt hat. Sicher gibt es, wie fast immer, Ausnahmen: Winston Churchill zum Beispiel hat seine vielbändigen Memoiren über den Zweiten Weltkrieg als Zeitzeuge, als Zeitbeeinflusser und als Historiker geschrieben. Sie sind bis heute lesenswert, auch weil der Autor erzählen konnte. Deswegen hat er 1953 den Nobelpreis gewonnen, den für Literatur. Auch weil die Zeitzeugenschaft immer wieder stirbt, wenn eine Generation ausstirbt, sind Historiker und Historikerinnen so wichtig. Wenn sie gut sind, erhalten sie Geschichte und Erinnerungen. Wenn sie besonders gut sind, sind sie es, weil sie gut erzählen können. So wie Gerd Krumeich. | |
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| | | | | | | | âViele starben vor den Augen der erschütterten Amerikanerâ | | Freude und Leid liegen dicht beieinander in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs â wie eine gefangene Ãrztin, ein KZ-Häftling, eine berühmte Fotografin, ein Freiheitskämpfer und ein Münchner Jugendlicher die Zeit erleben. Und überleben. | | | |
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