Kurt Kister gibt Einblick in deutsche Alltagsmomente
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24. März 2023
Deutscher Alltag
Guten Tag,
ein interessantes Phänomen im menschlichen Dasein besteht darin, dass man durch häufiges Erzählen einer angeblich selbst erlebten Geschichte mit der Zeit das Gefühl entwickeln kann, man habe diese Geschichte wirklich selbst erlebt. Bei der Umwandlung erzählter Möglichkeit in empfundene Wirklichkeit hilft auch die Zeit: Je länger etwas her ist, desto subjektiv formbarer wird es. Außerdem tragen zur Konstruktion gegenwärtiger Wirklichkeit auch noch Hilfsquellen bei: Fotos, die Erzählungen anderer oder Dinge, die man im Netz oder im Fernsehen sieht.

Ein banales Beispiel aus der Welt der großen Politik und des kleinen Journalismus: In jenen Zeiten, als Helmut Kohl noch Kanzler und Bonn immer noch Hauptstadt war, wurde ich vom damaligen Chefredakteur in das Bonner SZ-Büro abgeordnet, was retrospektiv gesehen der Beginn von viel persönlicher Unbill war, auch wenn es nicht ganz so schlimme Auswirkungen hatte wie etwa Angela Merkels frühere Putin-Affinität.

Als neuer SZ-Bonner also traf ich Kohl in dessen Büro zu einem Gespräch, das keinen unmittelbaren Anlass hatte, außer dass Kohl schon lange da war und ich nicht. Anders als mein sehr akribischer Vorgänger Günter Bannas das getan hätte, machte ich mir keine Aufzeichnungen von diesem Gespräch. Mein Gedächtnis ist auch nicht das beste, weswegen ich manchmal sogar Verständnis für die Cum-Ex-Blackouts des amtierenden Kanzlers habe (wobei die wahrscheinlich eher mutwillig als fahrlässig sind). Ich bin bis heute der Überzeugung, ich hätte mit Kohl über Mozart, die CSU, die Pfalz sowie über Zeitungsverleger in München und Ludwigshafen gesprochen. Von diesem Gespräch habe ich jedenfalls in den letzten 25 Jahren immer wieder mal so erzählt. Vielleicht auch, weil Menschen, die Kohl kannten, selbst wussten, dass Kohl gerne Mozart hörte und sich für Regionalgeschichte interessierte.

Kohl ist tot, und sollte er – was er bestimmt nicht getan hat – nicht Maike Kohl-Richter erzählt haben, dass er in Wirklichkeit mit mir über Vivaldi, die CDU und Gerhard Schröder geredet habe, dann wird meine Mozart-Verleger-Version für jene Leute, die sie kennen, die „Wahrheit“ bleiben. Für mich sowieso. Weil das so ist, misstrauen seriöse Historiker vielen sogenannten Zeitzeugen zu Recht. Auch Richter, Polizisten und Staatsanwälte hegen eine gewisse Skepsis gegenüber Zeugen. Die damalige SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles, der das Entstehen der Wahrheit auf der Basis subjektiver Annahmen nicht fremd war, sang 2013 am Rednerpult im Bundestag mal: „Ich mach mir die Welt, wide, wide, wie sie mir gefällt ...“ Dieses Pippi-Langstrumpf-Lied soll nach Aussagen von Zeitzeugen auch als geheimes Zusatzprotokoll in den Koalitionsvertrag der Ampel übernommen worden sein.

Physiker, Naturwissenschaftlerinnen ganz generell, manchmal auch für die Digitalisierung zuständige Geschäftsführer glauben ja, man könne nahezu alles messen, und dann mithilfe dieser Ergebnisse Politik, Wissenschaft oder Geschäfte machen. Dem halte ich als Amateurphilosoph, erfahrener Realitätskonstrukteur und gelegentlicher Freund der Metaphysik entgegen, dass sich Menschlichkeit geradezu aus der Verbindung des Verständlichen mit dem Unverständlichen, dem Erklärbaren mit dem Unerklärlichen definiert. Niemand hätte eine dieser gewaltigen gotischen Kathedralen mithilfe der damals bekannten naturwissenschaftlichen Gesetze errichtet, wäre er nicht von der Existenz Gottes überzeugt gewesen (schon allein das Begriffspaar „Gottes Existenz“ ist der Versuch, Metaphysik mit Physik zu vereinen). Auch die Vorstellung, dass jeder Mensch unveräußerliche, individuelle Rechte habe, basiert nicht auf einem naturwissenschaftlichen Verständnis des Menschen. Es ist pure Metaphysik.

Warum ich schon wieder auf so Zeug komme? Ganz einfach, ich habe irgendwo gelesen, dass Stefan Mross, Großprotagonist sogenannter volkstümlicher Musik, jemanden geohrfeigt hat, der ihn einen „Schlagerfuzzi“ nannte. Mross fühlte sich dadurch beleidigt. Das Sich-beleidigt-Fühlen ist das epochendefinierende Kriterium der Zeit, in der wir gerade leben. Ist aber Fuzzi eine Beleidigung?

Weil ich älter bin, als ich sein möchte, erinnere ich mich daran, dass Fuzzy (mit dem seltenen y) ein leicht beschränkter (das ist jetzt schon wieder respektlos), chaotischer, bärtiger, aber lustiger Cowboy war. Mindestens zwei dieser Beschreibungen treffen auf Mross zu. Fuzzy kam nicht in „Bonanza“ vor und auch nicht in den Karl-May-Filmen (das war Sam Hawkens, dargestellt von Ralf Wolter). Der Ur-Fuzzy wurde von dem US-Schauspieler Al St. John gespielt, den man vor langer Zeit immer wieder mal in den „Western von gestern“ des ZDF sehen konnte. Während „Fuzzy“ in der Bedeutung „lustiger, eher einfältiger Typ“ in die deutsche Sprache migrierte, verlor das Wort im Prozess der Akkulturation das y, welches durch ein i ersetzt wurde.

In meinem Kopf, also zumindest in meiner Wirklichkeit, war der Name Fuzzy (i) immer mit dem Sam-Hawkens-Gesicht von Wolters verbunden. Das war falsch, aber gleichzeitig so lange schon wahr, dass es wirklich wurde, jedenfalls für mich. Erst als ich die Geschichte mit dem schlägernden Schlagerfuzzi las, beschäftigte ich mich den Hintergründen des Fuzzy(i)tums. Dadurch habe ich meine eigene Erinnerung als Konstrukt entlarvt. Das war lehrreich. Ich hätte nicht gedacht, dass ich jemals in meinem Leben Stefan Mross dankbar sein würde.
Kurt Kister
Redakteur
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