Liebe/r Leser/in, in diesem Text werden Sie nichts über Inzidenzen, Chaos und Mutanten lesen. Auch Merkel, Drosten und die Ministerpräsidenten kommen nicht vor. Der Grund ist banal: Ich kann nicht mehr. Seit einem Jahr dieselben Argumente, Widersprüche, Positionen und Parolen, der Bleigehalt dieser Murmeltiertage wird zunehmend unerträglich. Manche nennen das Corona-Fatigue. Ich bin einfach Covid-müde. Umso mehr wurde ich hellwach, als die Meldung eines Aufstands der Kleinanleger gegen die Wall Street das Internet elektrisierte. Folgendes war geschehen (und wird in unserer Grafik der Woche noch einmal erklärt): Einige sehr mächtige Hedgefonds hatten viel Geld auf den Niedergang der Firma GamesStop, einer Art Schlecker der Videospielbranche mit ähnlich veraltetem Geschäftsmodell, gewettet. Das passte Tausenden Nutzern des Reddit-Forums r/wallstreetbets ganz und gar nicht. Zwar ist GameStop längst nicht mehr zeitgemäß (und bezahlt seine Angestellten eher mies), aber in all ihrer Scheußlichkeit ist die Firma doch einer ganzen Generation von Gamern irgendwie ans Herz gewachsen. Und so versammelten sich selbst erklärte Internet-Rebellen unter dem Banner „To the moon“ und sorgten durch organisierte Ankäufe für einen kometenhaften Anstieg der GameStop-Aktie. In der Folge entstand ein Hype, auf den wiederum Zocker, Spekulanten und Fonds-Ritter aufsprangen und so den Effekt zigfach verstärkten. Bald wurde dies für die Short Seller, die ja auf fallende GameStop-Kurse gesetzt hatten, nicht nur unheimlich, sondern vor allem zu teuer, und so mussten diese ihre geliehenen Papiere zu einem nunmehr viel höheren Preis zurückkaufen. Das wiederum führte innerhalb weniger Wochen zu einem 1700-prozentigen Kursanstieg einer maroden Firma. Aus dem Schelmenstreich der Internet-Rebellen zauberte die Börse reale Dollarmilliarden. Was war das? Eine Revolution der Kleinanleger gegen die Hedgefonds? Der Beginn einer neuen Phase des Börsenkapitalismus? Der Sieg des Populismus über den Markt mit Mechanismen des Markts? Mich erinnerte der GameStop-Aufstand an die finale Szene in David Finchers „Fight Club“. In diesem Film gelingt es einer Gruppe gelangweilter, vom Kapitalismus enttäuschter Männer, die sich in ihren Kellern nach Feierabend gegenseitig die Fresse polierten, das Finanzwesen zu Fall zu bringen. Der Held schaut am Ende auf sein Werk, während die Bankentürme vor ihm in sich zusammenbrechen. Genau diese Attitüde war mit der GameStop-Aktion in der Echtzeit angekommen. Und sie gefiel der Armee von Reddit: Erst drückten sie GameStop auf über 400 Euro, später pushten sie Nokia und Blackberry – und schließlich schossen die Redditoren den Silberpreis auf Achtjahreshoch. Was kommt als Nächstes? Google? Facebook? Amazon? Die digitalen Börsen-Stürmer von heute sind keine politisch motivierten „Occupy Wall Street“-Aktivisten, wie sie vor zehn Jahren vor den Tempeln Mammons für eine gerechtere Welt protestierten, keine Antikapitalisten, sondern die abgestumpfte Version der „Fight Club“-Jungs. Ihre Fäuste sind das Smartphone und die Trading-App. Online-Rebellen also, die sich über Message Boards wie Reddit oder das Gaming-Netzwerk Discord gegenseitig anstacheln und in Rage tippen, die an diesen Stammtischen der Einsamen und Tastatur-Maulhelden alles für ein gutes Meme und die Lolz, den möglichst perfiden Witz, tun. Die GameStop-Revoluzzer organisieren sich ähnlich wie die Weltverschwörer von QAnon, die felsenfest davon überzeugt sind, nur Donald Trump könne die Welt vor der Herrschaft korrupter und pädophiler Eliten sowie den von ihnen kontrollierten Echsenwesen bewahren. Leider birgt auch digitaler Dreck reale Gefahr – zumal die Kräfte aus den dunklen Ecken des Internets noch immer stark unterschätzt werden. Das wissen wir spätestens seit jenem verhängnisvollen Mittwoch im Januar, als Trumps Trolle durch das Kapitol in Washington marodierten. Am Ende war auch der Game-Stop Short Squeeze eine Machtdemonstration dieser postmodernen Internetkultur. Ein explosiver Aufstand, aufgekocht aus Pop, Geld, Memes, der schonungslos offenlegte, wie fragil das System noch immer ist, wie wenig die Finanzkrise im Jahr 2008 dem Casino-Kapitalismus anhaben konnte. All das Gerede über Regularien, all die Versprechen der Läuterung? Verpufft in der Cloud. Zwanzig Milliarden Dollar soll die GameStop-Rebellion die Hedgefonds gekostet haben. Das ist sechsmal so viel Geld, wie die EU sich ihre (okay, ziemlich unterfinanzierte) Impfstoffstrategie zur Rettung eines ganzen Kontinents ursprünglich hat kosten lassen. „Wer die Vergangenheit kontrolliert, kontrolliert die Zukunft“, heißt es bei Orwell. Am Ende gewinnt immer die Bank, heißt es in Vegas. Doch wer gewinnt heute? Wer kontrolliert das Internet? Das wird in der Gegenwart zu verhandeln sein. Mit oder gegen Google. Mit oder gegen Facebook. Mit oder gegen die Wall Street. In Berlin, Brüssel, Peking und in Washington. Mit Sicherheit auch in unserem Magazin. Packen wir’s an. |
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