| | | | | 27. Oktober 2023 | | Deutscher Alltag | | | |
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| | | | | wenn man mit Helmut Kohl auf Reisen ging, noch dazu in damals als exotisch geltende Länder, hatte er manchmal interessante Vergleiche parat. Kohl, den Gott möglicherweise selig hat, fühlte sich landschaftlich in Asien oder Afrika immer wieder mal an seine Pfalz erinnert. Die Pfalz war dem promovierten Staatswissenschaftler und Historiker nicht das Maà aller, aber doch vieler Dinge. In Nepal zum Beispiel besuchte Kohl 1987 die Königsstadt Bhaktapur, wo mit deutscher Unterstützung ein alter Palast renoviert wurde. Kohl sagte damals zu seiner Entourage: âDas ist wie bei uns, unser Dorf soll schöner werden.â Exotische Länder gibt es seit der Erfindung des Smartphones nicht mehr. Sie sind ganz überwiegend Hotspots für Instagram geworden. Und überhaupt ist âexotischâ eine eurozentrische Vokabel nahezu toter weiÃer Männer, die lediglich die Begrenztheit des Horizonts derer belegt, die sie benutzen. Exotisch ist goofy. Vergleiche aber sind und bleiben offenbar cool. Vergleiche mag jeder und jede. Vergleiche erwecken den Eindruck, jemand sei gebildet. Wenn man nämlich das eine mit dem anderen vergleichen kann, setzt das eigentlich voraus, dass man von beidem etwas versteht. Eigentlich. Nicht eigentlich ist es in der postgebildeten Laber-Gesellschaft völlig wurscht, wie sehr der Vergleich auf einem Pferdefuà hinkt. Apropos Pferdefuà beziehungsweise Mensch mit Huf: Sollten Sie Salman Rushdies 1988 erschienenes Buch âDie satanischen Verseâ immer noch nicht gelesen haben, nehmen Sie es sich für 2024 vor, wenigstens das. Nicht nur weil darin Saladin mit dem Huf vorkommt, sondern auch weil es nicht viele bessere, lustigere, traurigere, klug machende â kein Komparativ â Bücher über Irrationalitäten, darunter Liebe und Religion, gibt wie Rushdies Verse. Fällt mir nur eben ein, weil Rushdie in Frankfurt gerade den Friedenspreis des Buchhandels gekriegt hat. AuÃerdem werden Irrationalitäten leider auch 2024 Hochkonjunktur haben. Vergleiche, zumal historischer oder pseudohistorischer Natur, haben immer und gerade auch jetzt Hochkonjunktur. Beliebt sind: 9/11 wegen des Terrors der Hamas gegen Israel, Hitler wegen Putin (auch umgekehrt), Bush wegen Netanjahu und VOR ALLEM Weimar wegen ALLEM. 9/11 hat dabei den Vorteil, dass sich auch noch die damals Jüngeren, die jetzt selbst schon mittelalt sind, daran erinnern können. Und Hitler geht immer, weswegen Rudolf Augstein, der am 5. November vor 100 Jahren geboren wurde (bitte keine Vergleiche zwischen Augstein und Saladin Döpfner), zu seinen besten Zeiten jedes Jahr drei Hitler-Titel machte. Gerüchteweise heiÃt es in der Branche, der RTL-Stern habe die Tagebücher Döpfners, zweifle aber an der Authentizität (Döpfners, nicht der Tagebücher). In der Weimarer Republik wurde die damals kaum vorhandene Demokratie von vielen Akteuren nachhaltig zerstört. Das bestreitet wohl nicht einmal Bernd Höcke, der von sich selbst behauptet, er heiÃe Björn mit Vornamen. Schon seit Jahrzehnten ist âWeimarâ als Bestandteil alarmierender bis alarmistischer Gegenwartsdiagnosen in Deutschland noch beliebter, als es im ausgehenden 19. Jahrhundert und frühen 20. Jahrhundert der Canossa-Gang war. Einer meiner Lieblingshistoriker ist aktuell der wiedergewählte bayerische Ministerpräsident. Markus Söder räsonierte neulich über die Stimmung im Lande, über âFliehkräfte aus dem Zentrum der Demokratieâ, über AfD und Wagenknechte, und sprach diesen Satz: âEs gibt beginnende Warnsignale, wie wir sie in Weimar erlebt haben.â Abgesehen davon, dass âwirâ in Weimar gar nichts âerlebtâ haben, selbst der Maggus nicht, sind die berühmten âRahmenbedingungenâ heute völlig anders als damals. Oder, um es zum Beispiel für Lanz zuzuspitzen: Es ist bedrückend, dass sich einheimischer und importierter Antisemitismus immer noch und immer wieder Bahn bricht. Aber dennoch steht keine Partei zum Marsch auf die Feldherrnhalle bereit, und wenn eine es versuchte, würden ihre Protagonisten von der bayerischen Polizei eingekesselt und gemeinsam mit den Klimaklebern 30 Tage lang eingesperrt. Man kann sehr ausführlich begründen, warum und wie zu âWeimarâ die Vorgeschichte des begonnenen und verlorenen Weltkriegs gehörte, der völlige Umbruch deutscher Staatlichkeit, die vielerorts nun wirklich bürgerkriegsähnlichen Zustände nach dem November 1918, die Inbesitznahme des vermeintlich neuen Staates durch die alten Eliten, der Versailles-Revanchismus und so weiter und so fort. Das alles war Weimar â und kaum etwas, eigentlich nichts davon ist heute. Wer in Deutschland Analogien zu âWeimarâ herstellt, bei dem (oder der) schwingt, gerade wenn es unausgesprochen bleibt, das Ende von Weimar mit. Das ist das Alarmistische an solchen âVergleichenâ, denn das Ende waren die Nazis, war Hitler. Auch die Apokalypse hat heute Konjunktur, links und rechts sowieso, jetzt aber auch gerne mal in der Mitte. Das, mit Verlaub, gelegentlich Perfide an solchen Vergleichen liegt darin, dass man die âbeginnenden Warnsignaleâ, also die Ursachen für angeblich drohende Weimarer Zustände, mit Parteien oder Koalitionen verknüpft, die nicht extremistisch sind wie die AfD, sondern einfach nur politische Konkurrenten. Manches in der Bundesrepublik 2023 ist zwar besorgniserregend, aber auch sehr spezifisch. Da braucht man wahrlich nicht Weimar 1923 zum Vergleich. | |
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| | | | | | | | | | Alles neu, neu, neu | | So wurde dieses Jahrzehnt noch nicht beschrieben: "Höhenrausch" von Harald Jähner ist eine brillante, rasende Ereignisgeschichte der Zwanzigerjahre. | | | |
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