eine klassische bildungssoziologische Studie ist Robert Dreebens „Was wir in der Schule lernen“ von 1968. Ihre Pointe war, dass sie ohne die Nennung eines einzigen Schulfachs auskam. Denn sie handelte nur von Dingen, die wir in der Schule lernen, ohne dass sie unterrichtet würden.
Ein Beispiel: In den Familien werden die Erziehungsrollen zumeist von einer einzigen Person übernommen. Es gibt meistens nur eine Mutter und nur einen Vater. In der Schule hingegen treten als Lehrer verschiedene Personen auf. Daran lernen die Kinder erstmals täglich, wie dieselbe Rolle ganz unterschiedlich ausgefüllt werden kann. Sie lernen also, Rolle und Person zu trennen.
Jürgen Kaube
Herausgeber.
Wie komme ich zu diesem Buch in einem Literatur-Newsletter? Die Bedeutung der Literatur im Unterricht ist groß. Kaum eine Gymnasialschülerin, die nicht die Bekanntschaft mit Emilia Galotti, Woyzeck, Tschick, Figuren Kafkas oder dem Erbeben in Chili gemacht hätte. Oder im Fremdsprachenunterricht die Bekanntschaft mit George Orwell, Edgar Allen Poe, Ovid oder Sempé.
Worin liegt der Sinn dieser ausführlichen Beschäftigung mit Literatur? Manche beantworten diese Frage mit Hinweis auf den „Kanon“, zu dem der Unterricht hinführe. Das ist allerdings nur sehr eingeschränkt der Fall, denn der Kanon ist lang, und die Schulstunden sind kurz. Das Allermeiste muss weggelassen werden.
Eine andere Antwort kann auf die Vermittlung des Sprachgefühls hinweisen, die von großer Literatur geleistet wird. Hier kann man sich aber fragen, ob dann nicht stärker das Schreiben und Reden geübt werden sollte als das Lesen. Der Anglist Robert Scholes hat zu dieser Frage vor 25 Jahren ein faszinierendes Buch vorgelegt: „The Rise and the Fall of English“ (Yale University Press, 1999).
Eine dritte Antwort lautet: Das Lesen von Literatur übt in die Beobachtung von Personen und Charakteren ein. Womit wir bei etwas wären, was wir lernen, ohne dass es uns gelehrt würde. Von vielen Gefühlen haben wir durch ihre profilierte Darstellung in der Literatur die beste Kenntnis. Was Liebe ist, lernen wir im Roman, in der Musik und im Kino. Ohne diese Unterstützung wären wir vermutlich unsicher. Wir lernen, uns in andere hineinzuversetzen. Wir vergleichen uns mit den Protagonisten. Die italienische Philosophin Martina Orlandi hat gerade in der Zeitschrift „Psyche“ einen Essay darüber publiziert, dass wir mitunter durch Literatur oder Filme zu Einsichten über uns selbst gelangen, die wir abgelehnt hätten, wenn sie uns von Freunden vorgetragen worden wären.
Salman Rushdies Erinnerungen an den Mordversuch, dem er ausgesetzt war, ist ein besonders drastisches Beispiel für dieses Hineingezogenwerden in die Aufmerksamkeit für Personen. Unter dem Titel „Selbsttherapie durch freie literarische Assoziation“ hat unser Rezensent, Jan Wiele , auf das Erstaunen des Autors darüber hingewiesen, dass der Attentäter, der Rushdie seiner „Satanischen Verse“ wegen nach dem Leben trachtete, von diesem Buch „kaum zwei Seiten“ gelesen hatte. „Das vorliegende Buch“, so Wiele, diene Rushdie dazu herauszufinden, worum es dem Attentäter wirklich ging.
All diese Aspekte von Literatur werden in den Deutsch-, Englisch- und Französischstunden nicht oder nur ausnahmsweise unterrichtet. Wir lernen es gleichwohl. Die Literatur ist ein Schatzhaus der Charaktere, an das wir uns erinnern, wenn uns im sogenannten wirklichen Leben Personen begegnen. Vermutlich stehen uns dann zumeist kein Felix Krull und keine Lady Macbeth, kein Augustin Meaulnes und keine Madame de Rénal gegenüber. Aber dass wir sie kennengelernt haben, hilft uns, wenn wir uns in der Welt der Individuen zurechtfinden müssen, in der wir leben.
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