als ihr Bestseller „Liebesleben“ fürs Kino adaptiert wurde, hat die israelische Schriftstellerin Zeruya Shalev in einem Gespräch, das ich damals mir ihr und der Regisseurin Maria Schrader geführt habe , erzählt, wie sie Schriftstellerin wurde: Sie habe in einem Café in Jerusalem gesessen und auf einen Autor gewartet, dessen Buch sie gerade lektorierte. Shalev arbeitete zu der Zeit beim Ketter Verlag, schrieb selbst auch schon Gedichte, aber keine Prosa. Wie sich später herausstellte, konnte der Autor sie nicht anrufen, um die Verabredung abzusagen. „Als ich dort wartete“, so Shalev, „begann ich mit einem Gedicht, das immer länger wurde, bis ich, nach drei oder vier Stunden, bemerkte, dass es eine Handlung hatte, eine Geschichte erzählte und im Grunde der Beginn eines Romans war.“ So habe sie damals begonnen, Prosa zu schreiben: „Ich notierte den Anfang meines ersten Romans auf die Rückseite des fertig lektorierten Manuskripts jenes Schriftstellers, der nicht kam.“
Das Verrückte war, dass es Maria Schrader ganz ähnlich gegangen war: Auch sie, so erzählte sie es, hatte in einem Café gesessen und auf jemanden gewartet, der nicht kam. Sie habe an diesem Tag ein Buch in der Tasche gehabt, „Liebesleben“, das der Berlin Verlag ihr mit der Anfrage geschickt hatte, ob sie als Schauspielerin Lesungen mit der damals unbekannten Autorin machen wollte. „Ich holte das Buch aus der Tasche, eigentlich nur, um mich zu versichern, dass ich die Lesungen tatsächlich nicht machen wollte. Ich fing an zu lesen und verließ das Café nicht, bis ich es ausgelesen hatte. Es war ein großes unerwartetes Erlebnis, aus dem das, was später kam, wie selbstverständlich entsprungen ist“, sagte sie zu Zeruya Shalev. Sie meinte: ihre Lesereisen, ihre Freundschaft – und schließlich die Verfilmung von „Liebesleben“. Und sie fügte hinzu: „Ich glaube an die Macht solcher Momente. Man wird von etwas völlig Unerwartetem davongetragen, und es bleibt kein Platz für Zweifel. Eine Art zwingender Umstand, der eine neue Ordnung schafft.“
Julia Encke
Verantwortliche Redakteurin für das Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung in Berlin.
Der erste Roman, den Zeruya Shalev damals im Café in Jerusalem schrieb (es war das Buch vor „Liebesleben“), ist erst dieses Jahr ins Deutsche übersetzt worden und unter dem Titel „Nicht ich“ erschienen . Er erzählt die Geschichte einer jungen Frau, die ihren Mann und ihre Tochter für einen Geliebten verlässt, mit dem es dann aber auch nichts wird. In Israel erschien er 1993. Wenn man ihn jetzt liest, bekommt er aber plötzlich eine bestürzende Aktualität. Denn die kleine Tochter, um die es im Roman geht, scheint zu Beginn entführt worden zu sein, von Soldaten vom Spielplatz weggeholt und über die Grenze gebracht. Und sofort muss man an die Geiseln des 7. Oktober 2023 denken, an den Terrorakt der Hamas. Die Erzählerin berichtet auch von Gängen unter dem Kindergarten, in denen ab und zu Kinder verschwinden. Sie sei von diesen Verbindungen selbst schockiert, wenn sie das jetzt wiederlese, sagt die israelische Autorin. Nach der Geburt ihrer Tochter hätten auf ihrem Bett im Krankenhaus die Zeitungen gelegen, die vom Ausbruch der ersten Intifada berichteten. Das Sicherheitsgefühl war erschüttert. Als ihre Tochter drei gewesen sei, mussten sie ihr eine Kindergasmaske anmessen und sie später bei jedem Alarm in ein besonderes abgedichtetes Plastikzelt setzen, das sie vor der Bedrohung durch die chemischen Waffen im Golfkrieg schützen sollte. Solche Ereignisse hinterließen Spuren.
Für die Ausgabe der morgen erscheinenden „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ hat Zeruya Shalev diese Woche einen Text aus Haifa geschickt, wo sie inzwischen mit ihrer Familie lebt: „Netanyahus Entscheidung“ heißt er. Es ist eine ergreifende Erzählung über zwei Frauen, eine Jüdin und eine Araberin aus ihrem Viertel, die bis vor kurzem im Fitnessstudio immer zusammen trainierten, über den Tod des Sohnes der einen von ihnen – über den beide Frauen gemeinsam weinten. Und es ist eine empörte Anklage aus einem „gekidnapptem Land“, wie die Schriftstellerin das nennt. Denn nicht nur die Angehörigen, die in Gaza festgehalten werden, seien gekidnappt worden, schreibt Shalev. Der ganze Staat Israel erlebe immer öfter Misshandlungen durch jene, die sie eigentlich schützen sollten. Netanjahu – das sei ihr Unglück –, habe furchtbare Angst: „Nicht vor der Fortsetzung des Krieges oder dem Ausbruch eines viel schlimmeren großen Krieges in der ganzen Region fürchtet er sich, und nicht davor, dass noch mehr Soldaten fallen, sondern den Fall seiner Regierung fürchtet er, sobald er das Ende des Krieges erklären würde.“ Lesen Sie diesen Text!
Und wenn Sie das nächste Mal im Café sitzen und auf jemanden warten, der oder die nicht kommt, ärgern Sie sich nicht. Holen Sie ein Buch aus der Tasche oder beginnen Sie zu schreiben. Es könnte der Beginn von etwas ganz Neuem sein.
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