der Jugend ist sie vielleicht am ehesten zu verzeihen, diese Mischung aus Unbedarftheit und dem Hang, sich selbst wichtig zu nehmen, mit der ein junger Mann vor vielen Jahren bei seinem ehemaligen Deutschlehrer vorsprach, die Rede auf sein Vorhaben brachte, demnächst „Ulysses“ von James Joyce zu lesen, und schließlich fragte, halb sein Gegenüber, halb sich selbst, was es wohl heißen möge, mit Anfang zwanzig diesen Höhepunkt der Weltliteratur hinter sich zu haben.
Im Blick des Lehrers mischte sich Amüsiertheit und Verständnis (möchte ich mir einreden, denn ich war dieser junge Mann). „Lesen Sie das Buch“, sagte er, „und keine Sorge: Sie werden es nie hinter sich haben. Lesen Sie es in zehn Jahren noch einmal, in zwanzig, dreißig, lesen Sie es viele Male, Sie werden immer etwas Neues in ihm finden, Sie werden immer ein anderes Buch lesen.“
Fridtjof Küchemann
Redakteur im Feuilleton.
In der vergangenen Woche hat Sandra Kegel an dieser Stelle die Inselfrage gestellt, das hat mich auf diese Anekdote gebracht. Welche drei Bücher nimmt man mit auf eine einsame Insel? Es sollten solche Bücher sein, die man immer wieder anders, immer wieder neu liest, mit denen man nie fertig ist – nach Möglichkeit selbst dann nicht, wenn keine Jahrzehnte zwischen den Lektüren liegen, sondern nur die beiden anderen Bücher, die auch im Gepäck sein durften.
„Drei Bücher“, war die schöne Antwort eines Lesers, „sind natürlich unterhalb des Leserexistenzminimums!“ Gleichwohl nannte er Walter Kempowskis „Tadellöser und Wolff“, Michael Krügers „Verabredung mit Dichtern“ und Erich Kästners „Fabian“. Ein anderer griffe zu Thomas Manns „Zauberberg“, Robert Musils „Mann ohne Eigenschaften“ und – vielleicht ein schwer überbietbarer Klassiker bei dieser Frage – der Bibel. Eine Leserin aus Leipzig hätte – sie sei wohl „etwas altmodisch“ – stattdessen Manns vier Joseph-Romane mitgenommen, dazu „Der Jüdische Krieg“ von Lion Feuchtwanger und „Die verzauberte Seele“ von Romain Rolland.
Eine andere Leserin hätte ausschließlich Bücher von Autorinnen im Gepäck, Shirley Hazzards „Transit der Venus“, „Dein ist das Reich“ von Katharina Döbler, ein Buch, das selbst auch in die Südsee führt, in der besagte Insel in der Fantasie vieler Fragender und Antwortender liegt – und Lily Kings „Euphoria“, die dramatische Geschichte dreier junger Ethnologen, die Anfang der Dreißigerjahre in Neuguinea auf einen „weiblich dominierten Stamm mit ungewohnten Ritualen“ stoßen. So verspricht es zumindest die Verlagswebsite, ich war neugierig, musste nachschauen. Und bin immer noch neugierig auf das Buch.
Der Leser, der Benedikt Bösels „Rebellen der Erde“ als, wie er schreibt, „Anleitung zur Selbstversorgung“ mitnehmen würde, wird nicht an eine Tropeninsel gedacht haben, schließlich berichtet Bösel in seinem Buch von den Erfahrungen als Neulandwirt auf tausend Hektar „der sandigsten und trockensten Böden“ – in Deutschland. Gustave Flauberts „Éducation sentimentale“ (im französischen Original?) und J. M. Coetzees Künstlernovelle „Der Pole“ sollen auch noch mit.
Ein weiterer Leser schließlich legt mit seiner Antwort eine neue Frage nahe, eine Kreuzung gewissermaßen aus den beiden Fragen „Was lesen Sie?“ und „Welches Buch haben Sie im Bücherschrank, das Sie ganz bestimmt nie lesen werden?“, die uns diesmal die Literaturagentin und Autorin Elisabeth Ruge beantwortet: Seit zwanzig Jahren stehe „Alexias“ von Anna Komnene in seinem Schrank. „Ich bin seit drei Jahren in Rente und werde es dieses Jahr wohl schaffen.“ Anna Komnene – auch hier musste ich nachschauen – lebte von 1083 bis etwa 1153 als Tochter des byzantinischen Kaisers Alexios I. Komnenos, dessen Regierungszeit sie in diesem Buch behandelt.
Die gekreuzte Frage wäre: Welches Buch haben Sie seit langem im Schrank, das Sie sich endlich einmal vorknöpfen möchten – zum ersten oder, siehe „Ulysses“, ein weiteres Mal? Warum so lange nicht und warum jetzt? Schreiben Sie uns, wenn Sie mögen, an [email protected]. Wenn Sie sich stattdessen auf Bücher freuen möchten, die gerade erst oder noch nicht einmal erschienen sind: Tobias Rüther hat einen Trend im Bücherfrühjahr 2024 ausgemacht.
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