Liebe/r Leser/in, die Historie der Europäischen Union ist eine Geschichte der großen Worte und der noch größeren Versprechen. Als Augenzeuge erinnere ich mich lebhaft an den Lissabon-Gipfel, als wir EU-Korrespondenten die Strategie der Regierungschefs gewürdigt haben, mit Innovationen und Liberalisierung den wettbewerbsfähigsten Wirtschaftsraum der Welt zu schaffen. Im Frühjahr 2000 war das; Google, Amazon und Konsorten waren weit weg (oder noch nicht mal gegründet). An Pathos hat es seither nie gemangelt, wie auch diese Woche in Ursula von der Leyens Grundsatzrede reichlich zu vernehmen. Allein es hapert an den Taten. Offenbar ist etwas schiefgelaufen mit der Entfesselung der europäischen Wirtschaft. Die Pioniere aus dem Silicon Valley haben uns abgehängt, die Giganten dort stecken jedes Jahr 500 Milliarden Dollar in die Forschung; „jeder einzelne der großen Spieler für sich mehr als wir Dax-Konzerne zusammen“, berichtet ein deutscher Vorstandschef, nach einer Woche Westküste einmal mehr beeindruckt von der schöpferischen Energie dort, die sich so fundamental unterscheidet von dem, was er im Tagesgeschäft in Brüssel zu erleiden hat. „Europa hat das Rennen verloren, Europa kehrt nicht so schnell zurück“, klagt der nächste Vorstandsvorsitzende. Wohlgemerkt, beide Top-Manager sind keine verbockten Nationalisten, sondern leidenschaftliche Anhänger der europäischen Idee und umso enttäuschter, was die EU-Bürokratie daraus gemacht hat. Wenn Unternehmensführer, vom Mittelständler bis zum Großkonzern, heute aufzählen, was ihnen das Leben schwer macht, dann hat Brüssel zumindest in dieser Kategorie den Spitzenplatz erobert, noch vor der selbst erklärten „Fortschrittskoalition“ in Berlin – und das will etwas heißen in diesen Tagen. „Die EU ist wenig hilfreich“, lautet noch das mildeste Urteil über die EU-Kommission. Statt Fortschritt und Prosperität zu befeuern, sind Technokraten kleinteilig regulierend unterwegs, angetrieben von planwirtschaftlichem Furor und moralisierendem Übereifer. Sie legen nicht nur das Ziel fest, sondern am liebsten auch noch jede Schraube, an der zu drehen ist, gefangen im anmaßenden Glauben, dass Politiker und Beamte besser wissen als Praktiker und Ingenieure, was der Menschheit nützt, welche Technologie sich eines Tages durchsetzen wird. Jeden Tag spuckt das Bürokratiemonster so Stoff aus für die Verächter der europäischen Einigung. Überzeugte Europäer lässt das erst recht verzweifeln. Lieferkettensorgfaltspflicht, Gebäudesanierung, Taxonomie – jedes einzelne Stichwort reicht, um den Puls hochzutreiben. Die künstliche Intelligenz ist nur das jüngste Beispiel dafür, wie die Wirtschaft stranguliert wird, wie Innovationen engmaschig kontrolliert und reguliert werden, ehe sich technologische Revolutionen überhaupt entfalten können. „Wie sollen wir vorankommen, wenn wir neben jeden Softwareentwickler einen Juristen setzen müssen?“, schimpft besagter Vorstandschef. So wird das jedenfalls nichts mit dem wettbewerbsfähigsten Wirtschaftsraum der Welt. Vielleicht sollten wir mal wieder nach Lissabon fahren. |