| | | | | 9. Dezember 2022 | | Deutscher Alltag | | | |
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| | | | | dieser Tage war ich bei einem Konzert des Jazz-Pianisten Brad Mehldau, den ich für ähnlich genial halte wie Keith Jarrett, nur dass Mehldau, zumindest auf der Bühne, viel freundlicher und erdnaher ist als Jarrett. Mehldau spricht mit den Leuten, kündigt Titel an und erzählt zwischendurch ein bisschen etwas, während man bei Jarrett manchmal fürchten musste, er würde den Huster in Reihe 17 mit einer schnell gespielten Folge dunkler Noten am liebsten aus dem Sitz schieÃen. Jarrett ist ein solipsistischer, groÃer Pianist; Mehldau ein Künstler, der einen an seiner Virtuosität genauso teilhaben lässt wie manchmal an seiner Melancholie. Nun soll dieser Text um Gottes willen â ob der HERR eigentlich Jazz mögen würde? Oder Musik überhaupt? â keine Rezension werden. Das können die Feuilletonisten, jedenfalls manche Feuilletonisten, viel besser. Allerdings wäre es schon wichtig, dass Chefredaktionen (m/w/d) sowie pinkfloydgeprägte Kulturchefs hin und wieder, und sei es nur am Rande eines Leitungsjourfixes, daran dächten, dass gerade Klavier-Jazz für das Wohlbefinden der menschlichen Seele, zumindest mancher menschlichen Seelen, so wichtig sein kann wie für die Zeitung die Umwandlung von Kochrezepten in Abonnements. Nicht nur, weil es gerade auf Weihnachten zugeht, sollte man freundlich mit seiner Seele sowie mit denen anderer Menschen umgehen. Und zum Beispiel Brad Mehldau hören. Jenseits der Musik war das Mehldau-Konzert auÃerdem ein Monument jener Unzeitigkeit, die mittlerweile Normalität geworden ist. Die Eintrittskarte dafür habe ich vor drei Jahren gekauft, im November 2019. Damals sprach sich eine knappe Mehrheit der SPD-Mitglieder für Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans als neue Doppelspitze aus, Fritz von Weizsäcker wurde ermordet und die Kanzlerin Angela Merkel lobte in ihrer Rede anlässlich der Haushaltswoche die von ihr geführte groÃe Koalition. Der SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich sagte, seine Partei sei gegen das âStreben nach militärischer Dominanzâ, wie er es beim dennoch geschätzten Koalitionspartner zu erkennen glaubte. Ja, so war das damals, und eigentlich sollte im März 2020 dann das Mehldau-Trio im Münchner Prinzregententheater auftreten. Dann aber kam die Seuche, und irgendwann erhielt ich eine Mitteilung, dass das Konzert auf den 24. April 2021 verschoben werde. Die Monate vergingen, die Seuche nicht. Im April 2021 wurde Armin Laschet in seiner Eigenschaft als Gegensöder zum Kanzlerkandidaten der Union ausgerufen, Präsident Joe Biden verkündete den Rückzug aller US-Truppen aus Afghanistan bis spätestens 11. September, und das Verfassungsgericht in Karlsruhe erklärte Teile des Klimaschutzgesetzes für verfassungswidrig. Weil sich die Seuche weder von Laschet noch von Biden beeindrucken lieÃ, fand das Mehldau-Konzert wieder nicht statt; es wurde auf den 28. Februar 2022 verschoben. Im Februar 2022 überfiel Russland die Ukraine, in Peking gab es die Olympischen Hochsicherheitswinterspiele und Friedrich Merz wurde zum neuen Unionsfraktionsvorsitzenden im Bundestag gewählt. (Erstaunlich, was sich bei einer synoptischen Zeitgeschichtsbetrachtung alles für Zusammenhänge zu ergeben scheinen.) Brad Mehldau kam wieder nicht, das Konzert wurde wiederum verschoben, diesmal in den frühen Dezember desselben Jahres. Im frühen Dezember 2022 fand es jetzt tatsächlich statt, weil sich sonst vielleicht ein Zeit-Paradoxon (bitte googeln) ergeben hätte. Zwar kam der Pianist allein und ohne das Duo, welches mit ihm gemeinsam das Mehldau-Trio ausmacht. Angesichts der vielen Veränderungen in der Mehldau-Wartezeit ist es ohnehin bemerkenswert, dass anstelle von Brad Mehldau nicht ein anderer Pianist gekommen ist, zum Beispiel Michael Wollny oder Oscar Peterson. Letzterer ist zwar leider seit 2007 tot, aber weil ich ihn zweimal live gesehen und gehört habe, wäre ich gerne noch ein drittes Mal bei einem Peterson-Konzert gewesen. Ja, ich weià schon, die Vorstellung, Peterson gäbe jetzt noch mal ein Konzert, ist bestenfalls nicht realistisch. Aber erstens ist diese Kolumne sowieso partiell unrealistisch. Zweitens werden Träume nie wahr, wenn man sich nicht einmal traut, sie zu träumen, weil sie ja unrealistisch sind. Wer also hat schon davon gehört, dass Tote zurückkommen? Ich habe davon gehört. Es steht zum Beispiel in der Bibel, dass wir alle irgendwann an jenem einzigartigen Tag den Tod hinter uns lassen werden. (Ob man vorher in der Zwischenwelt im Himmel oder im Purgatorium wohl ein bisschen Oscar Peterson hören kann? Vielleicht live, also dead, aber dennoch nicht so tot wie auf Erden?) Und auÃerdem: In Brad Mehldaus Musik schwingt manchmal, ganz subjektiv gehört, etwas Chick Corea mit. Und Chick Corea ist leider auch schon tot. Er war ein gebenedeiter Pianist, und als er zuletzt im Juli 2019 mit seiner groÃen Band im Münchner Gasteig auftrat, dachte man nicht daran, dass dieser Mann im Februar 2021 sterben würde. Seine Musik ist geblieben, was ihm, zugegeben, als Mensch mutmaÃlich nichts mehr nützt. Aber was weià man: Corea war Scientologe, und die sehen den Menschen, unscientologisch gesagt, als so etwas wie erneuerbare Energie. Ich halte Scientology für schwersten Mumbojumbo, aber was anderes als erneuerbare Energie ist Musik, die man liebt?
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