Heribert Prantl beleuchtet ein Thema, das Politik und Gesellschaft (nicht nur) in dieser Woche beschäftigt.
 ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ 
szmtagiomb_np
Zur optimalen Darstellung empfehlen wir Ihnen die Browserversion
17. September 2023
Prantls Blick
Die politische Wochenschau
Prof. Dr. Heribert Prantl
Kolumnist und Autor
SZ Mail
Guten Tag,
es ist ein Fehler, die führenden Figuren der AfD „Rechtspopulisten“ zu nennen, wie es regelmäßig geschieht. Sie sind keine Populisten, sie sind Extremisten - Rechtsextremisten. Wer sie zu Rechtspopulisten erklärt und verklärt, ist ein Verharmloser. In Thüringen, wo die CDU soeben ein Gesetz mit Hilfe der AfD durchgesetzt hat, ist diese Partei besonders aggressiv; sie ist kämpferisch rechtsextremistisch. Sie hat das Erbe der NPD angetreten. Dieser AfD hat die Thüringer CDU soeben zu Gesetzeskraft verholfen. Das ist ein Menetekel.

Das Bundesverfassungsgericht hat die NPD im Jahr 2017 nur deswegen nicht verboten, weil man sie für zu klein und zu unbedeutend hielt, um eine wirkliche Gefahr darzustellen; ihr fehle, so hieß es, die notwendige Potentialität. Die AfD hat diese Potentialität – sie sitzt in allen Landtagen, sie sitzt im Bundestag, sie trachtet danach, Regierungspartei zu werden, sie kündigt die Systemveränderung an, sobald sie an der Macht ist. Mit „System“ meint die AfD die demokratische und rechtsstaatliche Grundordnung, wie sie in nun bald 75 Jahren auf dem Fundament des Grundgesetzes gewachsen ist. Die AfD will sie nicht verbessern, sie will sie stürzen. Diese Partei betreibt Staatsstreicherei. Es ist daher nicht nur ein Recht, sondern die Pflicht, beim Bundesverfassungsgericht einen Verbotsantrag zu stellen.

Warum es eine Pflicht gibt, den Verbotsantrag zu stellen

Die demokratischen Parteien und die von ihnen gestellten Regierungen haben eine Garantenstellung für diesen Staat – und sie haben eine Garantenpflicht: Diese Pflicht verlangt den Einsatz der Mittel, die die wehrhafte Demokratie bereitstellt. Wann, wenn nicht jetzt? Die Mütter und Väter des Grundgesetzes haben das Parteiverbot nicht deswegen in die Verfassung geschrieben, um es dort vor sich hinrosten zu lassen, bis es zu spät ist.

Das Volk ist einer Demokratie der Souverän. Wenn der Souverän eine rechtsextreme Partei an die Regierung wählt, müsse man das, so wird immer wieder behauptet, respektieren. Nein, das muss man nicht. Nein, genau das wollten die Mütter und Väter des Grundgesetzes verhindern. Die AfD versucht, das Land in den Ausnahmezustand zu treiben. Souverän ist in einer rechtsstaatlichen Demokratie nicht, wer über den Ausnahmezustand entscheidet oder ihn herbeiredet. Souverän ist, wer die Grundrechte verteidigt. Zur Verteidigung gehört notfalls das Parteiverbot.
SZPlus Prantls Blick
Der aufhaltsame Aufstieg der AfD
Zum Artikel Pfeil
Disteln haben im Monat September Hauptsaison. Ein Strauß aus Disteln passt in dieser Woche besonders gut: Am kommenden Donnerstag ist Weltfriedenstag.

Ganz herzliche Grüße
Ihr
Heribert Prantl
Kolumnist und Autor der Süddeutschen Zeitung
SZ Mail
Folgen Sie mir.
ANZEIGE
desktop timertrk_px
Prantls Leseempfehlungen
Man wird Seite für Seite klüger
Heute empfehle ich Ihnen ein Buch, das seit seinem Erscheinen reichlich gefeiert wird. Ich könnte es also lassen. Ich empfehle es Ihnen trotzdem, denn wer den Rechtsstaat und die Menschlichkeit verteidigt, kann es nicht nicht empfehlen. Es ist ein Muss für mich, Ihnen zu schreiben: Lesen Sie unbedingt Emmanuel Carrères großartiges Werk V13 über den so genannten „Bataclan-Prozess“. Und ich möchte Ihnen das ausführlich erklären (deshalb heute nur eine einzige Lese-Empfehlung): Es ist dies eine akribische Gerichtsreportage und zugleich ein durch und durch unpathetisches und deshalb überzeugendes Denkmal für Mitmenschlichkeit, Gerechtigkeit und die Stärke des Rechtsstaates. V13 ist ein Buch, das man fiebernd liest, erschüttert und dankbar für so viel Aufrichtigkeit, mit sich steigernder Neugier, mit dem Gefühl, Seite für Seite klüger zu werden, und nach der letzten Seite mit dem Wunsch, es unbedingt noch einmal zu lesen.

Zum Beispiel die Sätze Aristides, eines jungen Mannes, der, dem Tod näher als dem Leben, aus dem Blutbad im Bataclan gerettet wurde, und von den Verletzungen gezeichnet, seinen Weg durch Nahtod, Schmerz und Trauma in ein neues Leben schildert und seine Aussage beschließt mit: „Ich habe versucht zu verstehen, was junge Leute dazu bringt, einfach so auf andere junge Leute zu schießen. Ich verstehe es nicht, vielleicht gibt es da auch nichts zu verstehen. Aber ich bin froh, dass sie jetzt angehört werden. Ich bin froh, dass dieser Prozess stattfindet. Ich glaube, dass meine und die nächste Generation ein wahnsinniges Bedürfnis haben, an Gerechtigkeit zu glauben“ -  „Dass sie (die Opfer) zu uns sprechen können, ist bereits Gerechtigkeit“, sinniert daraufhin Emmanuel Carrère und man stimmt ihm zu.

Es ist sein Verdienst, dass Aristides Worte und andere eindringliche Zeugnisse der Überlebenden, sowie der Angehörigen der 130 Ermordeten nicht allein in den Gerichtsakten nachzulesen sind, sondern jetzt weltweit in diesem Buch. Halt – es waren 131 Tote, korrigiert Carrère die Statistik und vergisst nicht von jenem verzweifelten jungen Mann zu berichten, der an seinem Trauma zerbrach und sich das Leben nahm.

Immer wieder beeindruckt der Autor mit pedantischer Genauigkeit, die doch nichts anderes als großzügigste Menschenfreundlichkeit ist, und einem feinfühligen Blick auch für jene, deren Leid nicht mithalten kann mit den Opfern jenes unvorstellbaren Horrors, dessen schonungsloser, unsentimentaler Chronist er ist. Er würdigt die tiefen Leiden und die großen Stärken der Überlebenden, eben weil er sich an keiner Stelle zu Leidenskitsch oder Positive-Thinking-Plattitüden hinreißen lässt. Und er würdigt auch die Meisterleistung der Justiz, zum Beispiel die Leistung des Vorsitzenden Richters Périès, der seine Autorität zu Prozessauftakt durch nur vier Worte etabliert. Nach seinem Beruf gefragt, antwortet der Hauptangeklagte dramatisch: „Kämpfer des Islamischen Staates“ – daraufhin ungerührt Périès: „Bei mir steht Zeitarbeiter.“

Eine Meisterleistung der Justiz

So gut wie keinen der 149 Sitzungstage im „die Kiste“ genannten Saal des Pariser Justizpalastes hat Emmanuel Carrère, einer der renommiertesten französischen Schriftsteller, versäumt; beinahe ein Jahr währte der gigantische Prozess über die Pariser Attentate vom 13. November 2015. In Zahlen: 1800 Nebenkläger, 300 Anwälte, unzählige Zeugen, 14 Angeklagte. Seine Crux: Die islamistischen Haupttäter waren zu Prozessbeginn allesamt tot; sie hatten sich in die Luft gesprengt. Angeklagt waren solche, die die Attentate geplant und bei ihrer Durchführung geholfen hatten, zuvorderst Salah Abdeslam, der aus unerfindlichen Gründen nicht in die Luft flog, und solche, die vielleicht gar nicht wussten, zu welchem Verbrechen sie beigetragen hatten. Es war ein Prozess mit dem „maßlosen Anspruch, nämlich innerhalb von neun Monaten in den Blickwinkeln und Perspektiven aller Akteure darzulegen, was an diesem Freitag, dem dreizehnten, geschah. V13 – Vendredi 13 ist der Name dieses juristischen Versuchs, das zu bewältigen, was nicht zu bewältigen ist. Ich bewundere Carrères Disziplin das ausgehalten zu haben: den Horror, die Abgründe und auch die Langeweile der endlosen Prozesstage.

Ein mickriges Mysterium

Noch mehr aber bewundere ich, wie es ihm gelingt, Empathie auch für die Angeklagten aufzubringen, sein unbedingter Wille, sie zu verstehen, seine Strenge, die keine halben Erklärungen durchgehen lässt, seine Beharrlichkeit, sich in die Widersprüche verstricken zu lassen, seine Ehrlichkeit, die die Grenzen des Verstehbaren benennt, und seine literarische Genialität, dies alles präzise und eindringlich in Worte zu fassen - um am Ende ernüchtert und selbstkritisch festzustellen: „Was kümmern uns die Gemütszustände von Salah Abdeslam? Ein mickriges Mysterium: eine von Lügen umhüllte, abgrundtiefe Leere, mit der sich so eingehend beschäftigt zu haben man im Nachhinein ein wenig entsetzt ist.“ Mehr braucht es nicht, um den religiösen Eiferern jeden Nimbus von Grandiosität oder Geheimnis zu nehmen. Da ist im Kern nichts als jämmerliche Leere.

Am Ende ist es ein einfacher muslimischer Streifenpolizist in Kairo, den Carrère zu Wort kommen lässt. Ihm, dem Unbekannten, erzählt Nadia, die muslimische Mutter einer Ermordeten, ihre Geschichte. Er hört ihr zu. „Als sie fertig war, sagte er zu Nadia: Deine Tochter und die anderen sind Schahid, Märtyrer – und aus dem Mund dieses ägyptischen Polizisten zu hören, dass sie die Märtyrer waren und nicht die Mörder, die sich in ihrer haarsträubenden und manipulierten Ignoranz diesen Ehrentitel anmaßten, war, als rücke die Welt wieder in ihre Fugen.“

Emmanuel Carrère: V13. Die Terroranschläge in Paris. Gerichtsreportage. Das Buch ist vor kurzem bei Matthes & Seitz Berlin erschienen, es hat 275 Seiten und kostet 25 Euro.
Zum Buch Pfeil
ANZEIGE
desktop timertrk_px
Meinung
Kommentare, Kolumnen, Gastbeiträge und Leserdiskussionen im Überblick
Zu den Meinungs-Artikeln
Empfehlung Empfehlen Sie diesen Newsletter weiter
Kontakt Schreiben Sie uns, falls Sie Anregungen haben
Zur Startseite von SZ.de

Zur Übersichtsseite der SZ-Newsletter
Ihre Newsletter verwalten

Entdecken Sie unsere Apps:
as
gp
Folgen Sie uns hier:
tw
ig
fb
in
Impressum: Süddeutsche Zeitung GmbH, Hultschiner Straße 8, 81677 München
Tel.: +49 89 2183-0, Fax: +49 89 2183 9777
Registergericht: AG München HRB 73315
Ust-Ident-Nr.: DE 811158310
Geschäftsführer: Dr. Karl Ulrich, Dr. Christian Wegner
Copyright © Süddeutsche Zeitung GmbH / Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH.
Hinweise zum Copyright
Sie erhalten den Newsletter an die E-Mail-Adresse [email protected].
Wenn Sie den „Prantls Blick“-Newsletter nicht mehr erhalten möchten, können Sie sich hier abmelden.
Datenschutz | Kontakt