Nur mal angenommen…Mal einen Augenblick lang angenommen, ich wäre Vater. Ein stolzer Vater mehrerer Kinder. Meine Heimat wäre eines dieser afrikanischen Hungerländer, in denen Dürre und wirtschaftlicher Misserfolg seit Jahren an der Tagesordnung sind und mir das Leben schwer machten. Es kämen vielleicht noch eine korrupte Regierung oder Bürgerkriegsunruhen hinzu. Ich wüsste nicht, wie ich für meine Kinder sorgen könnte. Vielleicht hätte ich Glück und könnte als Tagelöhner das Überleben meiner Familie gerade so hinbekommen. Geld für Schule oder die Behandlung von Krankheiten hätte ich nicht. In dieser schier ausweglosen Situation wäre ich jetzt schon mehrere Jahre und ob der widrigen Umstände natürlich völlig verzweifelt. Kein Licht am Ende des Tunnels zu sehen – überall nur Elend, Not und Trostlosigkeit. In dieser hoffnungslosen Situation würde ich mich mit meiner Frau und den älteren Kindern beraten. Nach langen Diskussionen und vielen schlaflosen Nächten hätte meine Frau endlich zugestimmt: Unser ältester Sohn Soel solle es versuchen. Als kräftigster der Familie und mit seinem jugendlichen Mut soll er sich aufmachen, auf eine Reise ins Ungewisse. Auf jeden Fall aber in ein Land, wo er Leben und Zukunft hätte. Europa, das wäre der Traum!
Wir würden jeden Cent zusammenkratzen, damit er es irgendwie schafft. Beim Aufbruch gäbe der jüngere Bruder Soel noch die gut erhaltenen Turnschuhe mit auf den Weg, die er im Müll-Container der Stadt gefunden hat. Es fließen viele Tränen beim Abschied. Meine Frau wird in den Tagen, nachdem unser Sohn aufgebrochen ist, jede Nacht weinend einschlafen.
Ich würde ihr und den Geschwistern immer wieder erzählen, dass unser Soel es schon schafft, auch wenn mich selber Ängste und Sorgen plagen würden. Die Grenzen und Gefahren, Soel würde es schon schaffen. Klug und mutig wie er doch ist, an den Milizen und korrupten Schleusern vorbeikommen. Er würde sich durchschlagen. Irgendwie würde er auch über das Mittelmeer kommen. Ganz bestimmt. Soel habe ich doch das Schwimmen beigebracht. Überhaupt ist er ein echter Überlebenskünstler. Ich würde von freundlichen Menschen in Europa erzählen. Guten Menschen, die ihm unter die Arme greifen. Einer Familie, die ihm liebevoll hilft, die Herausforderungen in der fremden Welt zu meistern. Und einem engagierten Arbeitgeber, der ihm einen Job verschafft. Vielleicht könnte Soel sogar eines Tages seinen Geschwistern helfen. Als afrikanischer Vater würde ich all meine Hoffnungen auf die Menschen in Europa setzen, die Soel und so meiner Familie eine Zukunft und neues Leben schenken.
Ich bin Vater. Stolzer Vater von drei Kindern, die sich gerade aufmachen, ihr Leben selber in die Hand zu nehmen. Meine Heimat heißt Europa. Menschen wie Soels Vater setzen ihre ganze Hoffnung auf mich. Weil ich auch Kinder habe. Weil ich auch Mensch bin. Weil ich auch Christ bin. Weil ich doch jeden Tag lesen und sehen kann, wie groß die Not und das Elend woanders sind. Soels Vater kann sich nicht vorstellen, dass ich meine Augen davor verschließe …
In der Hoffnung, dass da einer ist, der uns Augen und Herzen öffnet, grüßt Sie alle für das ganze domradio.de-Team
Ihr
Ingo Brüggenjürgen,
Chefredakteur
P.S.: Unser Kölner Kardinal Woelki ist bekannt dafür, dass er nicht wegschaut. In seinem "Wort des Bischofs" am Sonntag hält er uns erneut die ertrunken Flüchtlinge im Mittelmeer vor Augen. Wenn auch Sie hinschauen und helfen möchten: Auf einer
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