| | | | | 6. Oktober 2024 | | Prantls Blick | | Die politische Wochenschau | | | |
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| | | Prof. Dr. Heribert Prantl | | | |
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| | | Morgen, am 7. Oktober, jährt sich das Massaker der Hamas. 1139 Menschen in Israel wurden getötet, über 5400 verletzt und 250 als Geiseln nach Gaza verschleppt, viele von ihnen sind mittlerweile auch tot. Ein Jahr später sehen wir die Folgen der grässlichen Tat; der Nahe Osten steht in Flammen. Dabei war schon so viel Hoffnung. Ich sehe das Hoffnungsfoto noch vor mir: Der damalige Palästinenser-Präsident Jassir Arafat und der damalige israelische Ministerpräsident Jitzchak Rabin schütteln sich vor dem WeiÃen Haus in Washington die Hände. Dahinter, in der Mitte zwischen beiden, steht mit väterlich ausgebreiteten Armen der US-Präsident Bill Clinton. Dann die Verleihung des Friedensnobelpreises. So viel Hoffnung. Das ist 30, 31 Jahre her. Das Hoffnungsfoto gehört zu diesem Hoffnungssatz von Rabin: "Es ist genug Blut, es sind genug Tränen geflossen. Genug!" Der Knoten ist viel gröÃer als das Schwert Man bekommt Gänsehaut bei diesem Satz. Es fröstelt einen bei diesem Hoffnungssatz, weil man weiÃ, wie schnell dann der Frieden Grenzen fand und wie unendlich weit weg er heute ist, drei Jahrzehnte später. Am Abend des 4. Novembers 1995, bei einer Friedensdemonstration in Tel Aviv, hat ein rechtsextremer, fanatisch-religiöser israelischer Jurastudent Rabin und den Friedensprozess erschossen. Rabins Rolle als Streiter für den Frieden blieb bis heute vakant. An die Stelle eines Friedensprozesses trat der Kreislauf von Gewalt und Gegengewalt, von Gegengegengewalt und Gegengegengegengewalt. Die gordische Situation im Nahen Osten zeigt, wie Gewalt funktioniert â so nämlich, dass man den immer dickeren, immer gröÃeren Knoten nicht einmal mehr durchschlagen kann. Der Knoten ist so viel gröÃer als das Schwert. Der Frieden braucht keinen neuen Alexander, er braucht einen Künstler, er braucht einen politischen Knotenlöser, er braucht einen wie Rabin. Und er braucht die Menschen, die an die Idee von einer gemeinsamen israelisch-arabischen Union glauben. Er braucht den befriedenden Dialog. Exemplarisch dafür ist die Korrespondenz zwischen dem Orientalisten und muslimischen Deutsch-Iraner Navid Kermani und dem Soziologen und jüdischen Israeli Natan Sznaider. In einem Büchlein, das sie vor einem Jahr gemeinsam im Verlag Hanser veröffentlichten, stellen sie fest: âWir erinnerten uns an die wirklichkeitsschaffende Kraft der Gewalt, die nur noch Schmerz und Trauer hinterlässt, aber auch daran â¦, dass man selbst in der Sprachlosigkeit noch sprechen kann, und sei es ohne Worte. Sei es nur, dass man den anderen atmen hört.â Wann wird aus dem Atmen ein Aufatmen? | |
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| | | Weil Sisyphos erschossen wurde | | |
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| Das fragt, trotz alledem mit ein wenig Hoffnung | |
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| Heribert Prantl | | Kolumnist und Autor der Süddeutschen Zeitung |
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| | | | | | | | | Dreist, dreister, am dreistesten | | Johannes Bauer, Jan Heidtmann und Iris Mayer haben ein Stück geschrieben, das man sich merken muss: Es ist ein lehrreiches Stück darüber, wie dreist die AfD in Thüringen bei der Auftaktsitzung des Landtages ihre neu errungene Macht zu nutzen versucht hat. Und es ist ein Stück darüber, wie es einem klugen und wohl präparierten Landtagsdirektor gelungen ist, das Schlimmste zu verhindern. Wer glaubt, dass es ganz so furchtbar, wie es viele befürchten, mit der AfD schon nicht kommen werde â der lese diesen anschaulichen Text. | | | | |
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| | | Ein Aha-Erlebnis nach dem anderen | | Keiner kann dem Autor Hein de Haas vorhalten, er wisse nicht, wovon er rede. Ich hätte es an einigen Stellen gern getan, gebe ich zu. Zu wissen, wovon man redet, ist immer wichtig, besonders aber, wenn es um Migration geht. Das ist ein Thema, bei dem die meisten meinen, sie wüssten Bescheid, bei dem Wissensstärke und Meinungsstärke aber oft nicht Hand in Hand gehen. Der niederländische Sozialwissenschaftler und Geograf Hein de Haas forscht seit drei Jahrzehnten zum Thema Migration, nicht nur vom Schreibtisch aus, sondern in zahlreichen Feldstudien weltweit. Er lehrte in Oxford, wo er auch die Co-Leitung des International Migration Institute innehatte, und ist gegenwärtig Professor für Soziologie in Amsterdam und Professor für Migration in Maastricht. De Haas ist also hochkompetent, und er ist stinksauer darüber, wie die Diskussion geführt wird, nämlich als Pro-und-Kontra-Debatte für oder gegen Migration. Dies sei ähnlich dumm, wie für oder gegen Wirtschaft, für oder gegen Landwirtschaft oder für oder gegen Umwelt zu diskutieren, stellt er fest. Sein Ãrger ist einer der Gründe, warum de Haas sein Buch geschrieben hat: âMigration. 22 populäre Mythen und was wirklich hinter ihnen steckt.â Das Buch ist so stark und so lehrreich, dass es eine längere Besprechung verdient, als sie hier an dieser Stelle üblich ist. âWie oft ist es mir passiertâ, schreibt de Haas, âdass Politiker im Anschluss an einen Vortrag auf mich zukommen, mir zu meinem âgroÃartigen Vortragâ gratulieren und im selben Atemzug hinzufügen: âDas könnten wir natürlich niemals umsetzen, das wäre ja politischer Selbstmord.â Daher wende ich mich in diesem Buch direkt an Sie, die Bürgerinnen und Bürgerâ. Das Buch von Hein de Haas empfehle ich Ihnen nicht, weil es mich in meinen eigenen Meinungen bestärkt â das tut es durchaus, aber manchmal auch nicht. Ich empfehle es Ihnen, weil es mich in einigen meiner Meinungen irritiert und mein vermeintliches Wissen korrigiert hat. Wenn de Haas am Anfang seiner Kapitel (die man übrigens nach Gusto jedes für sich lesen und auch einige überspringen kann) den jeweiligen Migrationsmythos darstellt, habe ich mich manches Mal ertappt gefühlt: Das denkst du doch auch ... Ein Beispiel: Auch ich meine, Entwicklungshilfe, Bildung, Armutsbekämpfung seien Mittel, Migration einzudämmen. SchlieÃlich verbessere man damit die Bedingungen in den Herkunftsländern und vermindere Faktoren, die die Menschen zum Verlassen ihrer Heimat zwingen - denn eines der Hauptmotive von Zuwanderern sei, dem Elend zu entkommen. So dachte ich. Nach de Haas weit gefehlt: Zunächst sei Entwicklung ein Motor für Migration, weil er die Menschen erst in Stande setze, mobil zu werden, sowohl was ihre Ressourcen, als auch was ihre Motivation betreffe. Erst wenn ein Land ein gewisses Maà an Wohlstand erreicht hat, wird es von einem Auswanderungsland zu einem Einwanderungsland, siehe Italien. Ãberhaupt sind, folgt man de Haas, nicht Armut und Ungleichheit die Treiber für Migration, die ohnehin überwiegend Binnenmigration und nicht Richtung Europa gerichtet ist. Treiber für Zuwanderung, sowohl für erwünschte als auch für unerwünschte, ist die Nachfrage nach Arbeitskräften in Einwanderungsländern. De Haas nennt es das bestgehütete offene Geheimnis der westlichen Gesellschaften, dass Arbeitgeber und Personalagenturen aktiv um ausländische Arbeitnehmer werben, weil Migranten wichtige Arbeiten in systemrelevanten Branchen übernehmen. Zuwanderungsbeschränkungen werden deswegen die Zuwanderung nicht aufhalten; sie sorgen nur dafür, dass die illegale Zuwanderung steigt: âPolitikern fällt es schwer, diese Wahrheit auszusprechen, denn damit würden sie ihrer Behauptung widersprechen, dass es für diese Migranten keine Arbeit gibt. Das ist eine Lüge, und das wissen sie auch. Die Wahrheit ist, dass unsere reichen, alternden und gebildeten Gesellschaften eine strukturelle Nachfrage nach Arbeitsmigranten entwickelt haben, die sich nicht beseitigen lässt, solange das Wirtschaftswachstum anhält. So gesehen lieÃe sich die Zuwanderung am wirkungsvollsten drosseln, indem man die Wirtschaft abwürgt.â Wie gesagt, dies ist ein Beispiel. Gönnen Sie sich ein Aha-Erlebnis nach dem nächsten und die Freude, sich irritieren und korrigieren zu lassen und am Ende etwas schlauer zu sein. Gönnen Sie sich einen rasanten Ritt durch die Geschichte der Migration und ihre unterhaltsam aufklärerische Entmythologisierung. Gönnen Sie sich Hein de Haasâ neues Buch, das sich lesen lässt wie ein Schmöker - und das einen durchaus optimistisch zurücklässt. Hein de Haas, Migration. 22 populäre Mythen und was wirklich hinter ihnen steckt. Das Buch hat 512 Seiten und ist im vergangenen Herbst im Fischer Verlag erschienen. Es kostet 28 Euro. | | | |
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