| | | | | 8. Oktober 2023 | | Prantls Blick | | Die politische Wochenschau | | | |
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| | | Prof. Dr. Heribert Prantl | | | |
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| | | Literatur ist, wenn sich der Mensch in einen Käfer verwandelt. Strafrecht ist, wenn sich der Mensch in einen Täter verwandelt. Die Gründe für die Verwandlung sind im Strafrecht oft genauso rätselhaft wie in der Literatur. Warum wird ein liebenswürdiger junger Mann, der um eine junge Frau wirbt und mit ihr eine Familie gründet, nach ein paar Jahren zu ihrem perversen Peiniger? Warum, warum? Es ist die Frage, die man sich im Gerichtssaal oft stellt, es ist die Frage, auf die auch ein so versierter, so ein souveräner, gelassener, bedächtiger und zupackender weiser Gerichtsreporter wie Erwin Tochtermann oft keine Antwort hatte. Er war 38 Jahre lang, bis 1999, der Gerichtsreporter der Süddeutschen Zeitung. Bisweilen haben wir, Erwin Tochtermann und ich, im kollegialen Gespräch nach Antworten gesucht. Dieser Brief ist ein Abschiedsbrief für ihn: Am vergangenen Freitag haben seine Verwandten und Freunde ihn auf dem Münchner Nordfriedhof zu Grabe getragen. Er ist 93 Jahre alt geworden. Meine erste Begegnung mit ihm vergesse ich nicht: Tochtermann stand da, groà und kettenrauchend, nach vorn gebeugt, er trug seine Gerichtskleidung - ein Tweed-Sakko mit Krawatte - und betrachtete mich bedächtig. Das war 1988. Tochtermann war damals sechzig Jahre alt, er war der arrivierte Kollege, der journalistische Meister im Gerichtssaal, ich war der Junge, der Neue aus Regensburg, der den Beruf gewechselt und zur Zeitung gegangen war. Christian Schütze, damals der Leiter des SZ-Ressorts Innenpolitik, war es, der mich dem Kollegen Tochtermann vorstellte und ihm über mich sagte, was der alte Hase natürlich schon wusste, dass ich bisher Staatsanwalt und vorher auch Richter gewesen war. Tochtermann begann verhalten zu schmunzeln. Was er sich da dachte, sagte er nicht. Vielleicht dachte er daran, dass der Kollege Kurt Kister mir schon den Spitznahmen âBlutrichterâ verpasst hatte. Die Brüchigkeit menschlicher Existenz Erwin Tochtermann war studierter Germanist. Man muss nicht Jurist sein, um ein groÃer Gerichtsreporter zu werden. Man muss ein Herz haben und man muss die Regeln kennen, die im Gerichtssaal gelten und die Menschen studieren, die im Gerichtssaal agieren. Tochtermann war, um ein Wort zu verwenden, das ein früherer bayerischer Ministerpräsident und späterer Bundesinnenminister auf sich gemünzt hat, ein âErfahrungsjuristâ. Bei Tochtermann habe ich die Erfahrung des Erfahrungsjuristen gespürt. Diese Erfahrung besagt: Verbrecher sind nicht einfach Verbrecher, weil sie Verbrecher sind. Sie sind Verbrecher geworden. Das ist eigentlich eine banale Feststellung, die in der Ãffentlichkeit oft verärgert als billige Entschuldigung für Täter abgetan wird. Aber das ist die Erkenntnis, die Erwin Tochtermann 38 Jahre lang als Gerichtsreporter gewonnen hat. Nirgendwo sonst auf der Welt erlebt man das Unglück, die Verzweiflung und den Zweifel so konzentriert und so kalt gepresst wie im Gerichtssaal. Dort, wo Mord und Totschlag verhandelt werden, erfährt man die Brüchigkeit menschlicher Existenz. Davon handelt mein heutiger SZ-Plus-Text. | |
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| | Oft reichen die Paragrafen nicht weit, oft taugen sie nicht, um die Abgründe des Alltags auszumessen; aber für ein Urteil reichen sie immer. Erwin Tochtermann kannte diese Dilemmata, er hat sie ausgeleuchtet. Er war ein Humanist mit Haut und Haar, ein Erzliberaler, ein heiterer Mann von königlich bayerischer Ruhe und von preuÃischer Schnelligkeit beim Abfassen seiner Texte. Es ist schön, dass es solche Vorbilder gibt. Ich wünsche Ihnen eine erquickliche Herbstwoche. | |
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| Heribert Prantl | | Kolumnist und Autor der Süddeutschen Zeitung |
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| | | | | | | Reden über Israel | | Und wieder Krieg in Israel. Man möchte verzweifeln über den ausweglosen Kreislauf aus Hass, Gewalt und Krieg, in dem das Land sich dreht, das für drei Weltreligionen das Heilige Land ist. Seit gestern wird wieder in Endlosschleife über Israel geredet, auch in Deutschland, der âNation mit 80 Millionen Nahostexpertenâ. So nennt der in Israel geborene Meron Mendel seine deutschen Landsleute mit liebevollem Spott. Der Leiter der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt hat kürzlich ein Buch herausgebracht, das den Titel hat âÃber Israel redenâ. Lesen Sie es, es ist ein Pfadfinder durch das Dickicht der Meinungen und Urteile, die in den nächsten Tagen garantiert wieder über uns hereinbrechen werden. Denn auch dieser Krieg wird Anlass sein, die bekannten Lieblingsparolen herauszukrähen, über Israel und Palästina, über Zionismus und Postkolonialismus und überhaupt über âdie Judenâ und âdie Palästinenserâ zu schwadronieren - dekoriert mit gegenseitigen Antisemitismus- und Antiislamismus-Vorwürfen, den üblichen Schuldzuweisungen und aufgeladen mit hoher Moralität. Meron Mendel schreibt vor dem Hintergrund seiner eigenen Lebensgeschichte und mit kritischer Distanz zur israelischen Politik über eine sehr deutsche Debatte und greift alle Reizthemen auf: die Geschichte des Staates Israel, den Zionismus, den Antisemitimus-Vorwurf gegen Achille Mbembe, die BDS-Bewegung, die Debatte um Israel als Teil der deutschen Staatsräson, die Erinnerungskultur und ihre Kritiker u.a.m. Er bringt seinen Lesern keine Meinung über die vielen Meinungen hinaus bei, sondern lehrt sie zu denken, zuallererst nachzudenken über die eigene Anfälligkeit für Projektionen. Mendel schont keinen und macht es niemandem gemütlich, am wenigsten sich selbst, und doch macht er es seinen Lesern und Leserinnen leicht, weil er nicht doziert, sondern unprätentiös erzählt, klug und warmherzig. Er scheut nicht die Widersprüche, sondern sucht sie, um sie fruchtbar zu machen, zum Beispiel in seiner Gebrauchsanweisung fürs Reden über Israel, mit dem er uns am Ende des Buches entlässt: âErstens, vergiss, dass Israel nach Auschwitz entstanden ist. Zweitens, vergiss nie, dass Israel nach Auschwitz entstanden ist. Und wer sich darüber beklagt, dass diese Forderung so entsetzlich widersprüchlich ist, hat damit verdammt recht.â Wer danach noch Lesehunger hat, greife zu Micha Brumliks vor zwei Jahren erschienenem Buch, das noch kein Gramm Aktualität eingebüÃt hat, und auf das Meron Mendel verweist. Es ist mittlerweile als Taschenbuch erhältlich und trägt den Titel: âPostkolonialer Antisemitismus? Achille Mbembe, die palästinensische BDS-Bewegung und andere Aufreger.â Die Fragen, denen Brumlik sich zuwendet, sind zum Teil dieselben, doch schreibt er detailreicher und schürft wissenschaftlich tiefer in seiner Analyse der Entstehung des Staates Israel und dem Vorwurf der Apartheid, des modernen Rassismus und Antisemitismus und der Debatten um den Nahostkonflikt und der BDS-Bewegung. Meron Mendel, Ãber Israel Reden. Eine deutsche Debatte. Das Buch ist in diesem Jahr bei Kiepenheuer&Witsch erschienen, hat 224 Seiten und kostet 22 Euro. | | | |
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| | | Micha Brumlik, Postkolonialer Antisemitismus? Achille Mbembe, die palästinensische BDS-Bewegung und andere Aufreger. Das Buch ist 2022 in korrigierter und ergänzter Auflage im VSA-Verlag erschienen, hat 164 Seiten und kostet 14,80 Euro. | | | | |
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| | | | | Ohren auf, Augen zu | | Opa und Oma haben es schon gehört, Mama und Papa haben es auch gehört, heute hören es die Kinder und die Enkel: Das âBetthupferlâ brachte sie damals zu Bett, das Betthupferl bringt sie heute ins Bett. Das Betthupferl ist eines der ältesten Sendeformate des Bayerischen Rundfunks. In diesen Tagen feiert es seinen siebzigsten Geburtstag. Im Dialekt gelten Betthupferl als kleine SüÃigkeit oder andere Annehmlichkeiten, die gern auf dem Nachttisch oder auf dem Kopfkissen liegen. Im Rundfunk sind die Betthupferl kleine Gute-Nacht-Geschichten. âAugen zu, Ohren aufâ â mit diesen Wörtern begann am 5. Oktober 1953 um 18.55 Uhr die Erfolgsgeschichte dieser Sendung. Der Kollege Hans Kratzer geht in seinem Stück auf der Medienseite der SZ-Wochenendausgabe (âDie süÃesten Träumeâ) der Geschichte der Sendung und ihren Veränderungen im Laufe der Jahrzehnte auf liebevolle Weise nach. | | | |
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