Heribert Prantl beleuchtet ein Thema, das Politik und Gesellschaft (nicht nur) in dieser Woche beschäftigt.
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3. Dezember 2023
Prantls Blick
Die politische Wochenschau
Prof. Dr. Heribert Prantl
Kolumnist und Autor
SZ Mail
Guten Tag,
als ich vor ein paar Jahren aus den Pflichten des redaktionellen Alltags ausschied, um mich fortan der journalistischen Kür als Kolumnist und Autor der SZ zu widmen, haben mir die Kolleginnen und Kollegen von der Redaktion ein schönes Geschenk gemacht: Sie ließen, natürlich nur in kleiner Auflage und nur für die Gäste eines großen Umtrunks, eine Sonderausgabe der Süddeutschen Zeitung drucken. Die erste Seite der sechsseitigen „Prantl-Spezial-Beilage“ sah optisch aus wie die erste Seite der SZ halt so aussieht, der Inhalt war allerdings sehr speziell: Der Aufmachertext zum Beispiel war eine leicht spöttische Abhandlung über eine bevorstehende Reform des Bundesverfassungsgerichts, auf die sich eine Kommission „Zukunft der Rechtsprechung“ geeinigt habe. Kern dieser Reform sei ein neuer, also ein Dritter Senat mit einem „Allerobersten Richter“. Es brauche diesen, so hieß es da, „um Revisionen gegen Urteile des Ersten und Zweiten Senats möglich zu machen“. Das neu geschaffene Amt des Allerobersten Richters werde „der Publizist Heribert Prantl übernehmen“.  Meine Kollegen nahmen so mein Faible für das höchste Gericht aufs Korn und meine scharfe Kritik an so manchen Urteilen, zuvorderst am Asylurteil von 1996. 

Wasser und Brot

An diesen ehrenvollen Spott habe ich schmunzelnd denken müssen, als ich in den vergangenen Tagen immer wieder über das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Schuldenbremse nachgedacht habe. Ich fand dieses Urteil auf Anhieb falsch und finde das immer noch: Der Hieb der Karlsruher Richter gegen den Bundeshaushalt ist radikal zukunftsfeindlich und gefährlich für das Gemeinwesen; er setzt die Regierung sozusagen auf Wasser und Brot und hungert bitter notwendige Investitionen aus. Die obersten Richterinnen und Richter haben entweder die fatalen Folgen ihres Urteils nicht bedacht - das wäre traurig für ein Gericht dieses Ranges und dieses Rufs. Oder aber sie haben die fatalen Folgen des Urteils sehr wohl bedacht, aber ihre Macht ausgekostet - das wäre grob ungehörig, das wäre Machtmissbrauch. Das Bundesverfassungsgericht hat den Haushalt nicht einfach nur für verfassungswidrig erklärt und die Regierung verpflichtet, in Zukunft die vom Gericht formulierten Regeln einzuhalten. Es hat den Haushalt in toto für nichtig erklärt, also für unwirksam von Anfang an. Das war und ist maßlos. Ein Rechtsmittel gegen das Urteil gibt es nicht. Die einzig sinnvolle Revision ist die: Die Schuldenbremse mit der dafür nötigen Zweidrittelmehrheit aus dem Grundgesetz zu streichen oder sie grundlegend zu reformieren, also investitionsfreundlicher zu gestalten.

Auffällig war, auch in der Haushaltsdebatte des Bundestags, wie respektvoll selbst die von Karlsruhe malträtierten Regierungsparteien mit dem Gericht umgingen. Nur der SPD-Fraktionsvorsitzende Rolf Mützenich meinte, die Berechnungsgrundlage der Schuldenbremse (es dürfen danach lediglich Schulden in Höhe von 0,35 Prozent des Bruttosozialprodukts aufgenommen werden) sei eine „wahllos gegriffene politische Größe“ die nicht als „Monstranz“ vor sich hergeführt werden dürfe, wenn es um die Zukunft des Landes gehe. Da hat er sehr recht; die Schuldenbremse ist kein Selbstzweck – und man muss vor ihr nicht in die Knie gehen. 

Zu spüren war in der Haushaltsdebatte wie in der gesamten Diskussion über die Schuldenbremse: Dem höchsten Gericht in Karlsruhe ist in den vergangenen sieben Jahrzehnten immer mehr Macht und Autorität zugewachsen – so wie einem Baum die Jahresringe. Ob das gut ist, warum und wann? – darüber schreibe ich heute in einem SZ-Plus-Essay, auch aus Anlass der Wahl eines neuen Bundesverfassungsrichters: Der bisherige Generalbundesanwalt Peter Frank folgt dem ehemaligen saarländischen Ministerpräsidenten Peter Müller im Amt des Höchstrichters nach. Ich schreibe daher über Glanz und Elend des Verfassungsgerichts: Was Altötting für den deutschen Katholizismus ist, das ist Karlsruhe für den deutschen Rechtsstaat – ein Gnadenort.

 
SZPlus Prantls Blick
Wenn Karlsruhe wackelt: Glanz und Versagen des Bundesverfassungsgerichts
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In Respekt und Lob ertränkt

Die Politik hat ihre Taktik im Umgang mit Karlsruher Urteilen in den vergangenen 25 Jahren geändert. Früher, noch in den Neunzigerjahren, wurden die Verfassungsgerichtsentscheidungen jedenfalls in Einzelfällen heftigst kritisiert. Heute wird die Judikative in Respekt und Lob ertränkt. Gegen den Respekt ist nichts zu sagen, den hat sich das Gericht durch eine Fülle von klugen, oft gar segensreichen Entscheidungen verdient.

Eine Freistellung des Gerichts von Kritik ist indes schädlich und falsch. Sie nutzt dem Bundesverfassungsgericht nicht, sondern schadet ihm. Eine scharfsinnige rechtspolitische Philippika hätte dem Bundestag gut angestanden. Dass es sie nicht gegeben hat, ist ein Indiz für den Niedergang der Rechtspolitik.

Ich wünsche Ihnen eine kerzenreiche und kuschelige erste Adventswoche.

Ihr
Heribert Prantl
Kolumnist und Autor der Süddeutschen Zeitung
SZ Mail
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Prantls Leseempfehlungen
Eine Jugend in Deutschland
Diese Leseempfehlung ist ein rühmendes Gedenken: Vor 130 Jahren wurde Ernst Toller geboren. Er war ein jüdischer deutscher Schriftsteller und Dramatiker, ein  bekehrter Kriegsfreiwilliger des Ersten Weltkriegs, er wurde Revolutionär und Pazifist, er war einer der Protagonisten und Leitfiguren der Münchner Räterepublik, wurde nach deren Scheitern wegen Hochverrats angeklagt, im Standgerichtsprozess von Hugo Haase, dem Vorsitzenden der USPD, und vom Soziologen Max Weber verteidigt, der ihm die „absolute Lauterkeit“ eines radikalen Gesinnungsethikers attestierte. Das Todesurteil blieb Ernst Toller wohl deswegen erspart. Er wurde zu einer Festungshaft von fünf Jahren verurteilt. Während er im Gefängnis Niederschönenfeld eingekerkert war, hatten seine Stücke auf den Theaterbühnen größten Erfolg. Aus Anlass der hundertsten Aufführung des Dramas „Die Wandlung“, das er schon 1917/18 geschrieben hatte, bot ihm der bayerische Justizminister die Begnadigung an. Er lehnte ab, weil er gegenüber den anderen Gefangenen nicht bevorzugt werden wollte. Toller, heute ziemlich vergessen, war in den 1920er-Jahren bekannter als Bert Brecht. Seine Stücke wurden in viele Sprachen übersetzt und auf den größten Bühnen gespielt. „Masse Mensch“ gehört dazu und „Hoppla, wir leben!“, eine fantastische Geschichtsrevue.

Von Toller habe ich einst zum ersten Mal im Geschichtsunterricht an meinem Kleinstadt-Gymnasium gehört. Mein junger Lehrer lobte die im Jahr 1933 publizierte Autobiografie Tollers als die spannendste Autobiografie, die er je gelesen habe. Wenn man die letzten Jahre des Wilhelminismus, die Revolution von 1918 und die Weimarer Republik samt der aufsteigenden Hitlerei verstehen wollen, müsse man diese Autobiografie lesen. Ich habe das dann erst viel später getan – aber bis dahin diesen Ernst Toller nicht vergessen, weil mir eine Bemerkung des Lehrers im Gedächtnis geblieben war: Toller, der immer wieder unter Depressionen litt, sei stets mit einem Strick im Koffer gereist. Tollers Bücher fielen 1933 der Bücherverbrennung der Nazis zum Opfer, er stand schon auf deren ersten Ausbürgerungsliste der Nazis. Er floh ins Exil nach New York – und erhängte sich dort im Mai 1939 im Zimmer seines Hotels.
 
Wer wissen will, was Sprachkraft ist, der lese diese Autobiografie von Ernst Toller.

Ernst Toller: Eine Jugend in Deutschland, erstmals publiziert 1933. Es gibt das Buch (antiquarisch) in einer Ausgabe von rororo aus dem Jahr 1963 und in einer Ausgabe von Reclam aus dem Jahr 2013 – für 9,80 Euro. Eine neue Ausgabe der Urfassung ist im Verlag Wallstein in Vorbereitung. Sie soll 2024 erscheinen.
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SZPlus
Zwei Fahnen, zwei Staaten
Der junge Wilde ist nicht mehr jung. Jetzt, mit 78, ist er ein alter, ein unverbesserlicher, unheilbarer Optimist. Vor einem halben Jahrhundert war Daniel Cohn-Bendit weltberühmt, er war Dany le Rouge, er stand auf den Barrikaden in Paris, London, Amsterdam und Rom. Willi Winkler porträtiert ihn fein respektvoll und verhalten bewundernd. Und er fragt sich von Absatz zu Absatz, woher Cohn-Bendit seine Kraft der Hoffnung nimmt: Cohn-Bendit ist Jude und träumt davon, „dass es eines Tages eine riesige Demonstration mit zwei Fahnen gibt, mit der israelischen und der palästinensischen.“ Er findet die Hamas in ihrem Israelvernichtungswillen „jenseitig“, da sei jede Rationalität verloren. Und er propagiert die Zwei-Staaten-Lösung als die einzige moralisch und politisch vertretbare Position. Beide, die Israelis und die Palästinenser, haben, so meint er, das Recht auf einen Staat. Und genau jetzt sei Zeit für Aussöhnung.
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