Die neue Qualität der Dienstmädchenhausse
Die neue Qualität der Dienstmädchenhausse von Torsten EwertSehr verehrte Leserinnen und Leser, mit dem GameStop-Hype hat die Dienstmädchenhausse eine neue historische Dimension erreicht. Die Folgen für die Märkte sind noch nicht absehbar. Wie so oft in solchen Fällen wird es zu völlig unerwarteten Effekten kommen. Diese Gelegenheit wird sich Miss Börse sicherlich nicht entgehen lassen. Wann es zu einer „Dienstmädchenhausse“ kommt Dienstmädchenhausse klingt antiquiert, und tatsächlich ist es rund 100 Jahre her, dass dieser Begriff ein reales Phänomen beschrieb: Im Bullenmarkt der 1920er Jahre wurden letztmals Dienstmädchen in größerer Zahl gesichtet, die ihr Erspartes zur Börse trugen. In der jüngsten großen „Dienstmädchenhausse“ zur Jahrtausendwende stand dieser Begriff nur noch als Synonym für die vielen unbedarften Privatanleger, die zum Ende eines jahrelangen Bullenmarkts und angefeuert durch die Medien ihr Geld in Aktien steckten. Jetzt ist wieder so weit: Seit dem Corona-Crash sind die Zahlen der Neukontoeröffnungen bei neuen und alten Online-Brokern förmlich explodiert (siehe Börse-Intern vom 08.07.2020). Damit hat die letzte Phase des Bullenmarkts begonnen, die in der Regel zur allgemeinen Übertreibung führt. Bei einzelnen Aktien und Branchen (z.B. „Wasserstoffaktien“) sind solche Übertreibungen längst zu sehen. Was eine „Dienstmädchenhausse“ ausmacht Die früheren Dienstmädchenhaussen dauerten einige Jahre, wie manche Indizien andeuten. Diesmal könnte dieses Zeitfenster ein anderes sein. Denn die aktuelle „Dienstmädchenhausse“ hat eine neue Qualität erreicht. Das hat der jüngste Hype um GameStop und Co., deutlich gemacht, über dessen Hintergründe wir hier auch in der Börse-Intern in der vergangenen Woche mehrfach berichtet hatten. Ein wichtiges Merkmal einer Dienstmädchenhausse ist seit jeher die Mundpropaganda: Die Dienstmädchen schnappen einige Hinweise auf die außergewöhnliche positive Börsenlage bei ihrer Herrschaft auf und tragen ihr Geld zur Börse. Und sie erzählen es weiter – insbesondere, wenn ihre Spekulationen Erfolg haben. Der Milchmann und andere Lieferanten werden informiert, Freundinnen und Bekannte usw. Auch in der Hausse Ende der 1990er Jahre war das so: Es gab Aktientipps vom Frisör, vom Taxifahrer und auf Partys. Die neue Qualität der aktuellen „Dienstmädchenhausse“ In dieser Zeit entstand aber eine neue Form der Mundpropaganda: Online-Foren, in denen sich Interessierte zu den diversen Anlagemöglichkeiten austauschten. Allerdings spielten sie zunächst eine ähnliche Rolle wie die klassischen Finanzmedien: Sie brachten zwar Tipps unter die Leute, aber wie diese darauf reagierten, war ihre Sache. Letztlich handelte jeder individuell. Wenn daraus, z.B. bei einzelnen Aktien oder Branchen, ein Hype entstand, dann war das eher Zufall. Inzwischen sind aber soziale Medien für viele Menschen eine Alltäglichkeit, über die sie nicht nur Informationen austauschen, sondern auch Aktionen verabreden. Warum nicht auch den Sturm auf eine Aktie? Genau das ist bei GameStop und anderen Werten nun geschehen. Es gibt Hinweise darauf, dass dies nicht das erste Mal war, sondern eher der erste Höhepunkt eines Prozesses, der schon seit einigen Monaten läuft. Damit hat die Dienstmädchenhausse eine neue Qualität erreicht. Die Bullen rasen nicht mehr blindlings durch die Gegend Wir können das – um im Bild der Börse zu bleiben – mit einer Bullenherde vergleichen. Auch in früheren Dienstmädchenhaussen ist diese Herde oft losgerannt und hat dabei alles plattgemacht, was ihr in den Weg kam. Aber wie es bei einer Bullenherde üblich ist, rannte sie blindlings los – die Richtung war eher zufällig, die Schäden waren es auch. Bei GameStop und Co. wurde die Bullenherde dagegen bewusst in eine Richtung getrieben. Denkt man dieses Bild zu Ende, dann gibt es letztlich nichts, was diese Herde nicht zertrampeln könnte. Ist damit die Börse am Ende? Warum die „Dienstmädchenhausse“ und damit die Rally noch nicht am Ende sind Nun, zumindest dürften wir noch einige Versuche dieser Herde erleben, ihrem Sturm und Drang freien Lauf zu lassen. Ich bin nämlich nicht der Meinung wie mancher Kommentator, dass dies das Ende der „Dienstmädchenhausse“ ist. Der Grund ist einleuchtend: Den Akteuren ist ihr erster großer Coup gelungen, sie hatten spektakulären Erfolg, ihre Aktion hat ein großes Medienecho gefunden, Betroffene und Behörden sind ratlos. Unbedarftheit hat sich unvermutet mit ungeahntem Erfolg gepaart. Das führt zwangsläufig zu einem starken Selbstbewusstsein, Hybris oder gar Größenwahn. In einer solchen Situation geben die Protagonisten nicht auf, sondern suchen sich neue Ziele. Viel zu befürchten haben sie bisher nicht. Die Hilflosigkeit der Verantwortlichen ist fast schon peinlich. Die Aufsichtsbehörden hüllen sich in Schweigen, während die Broker sinnlose aktionistische Maßnahmen ergreifen. Hilflosigkeit und Beifall So erhielt ich am Wochenende von meinem US-Broker die Nachricht, dass für die Aktien mit den Tickern AMC, BB, EXPR, GME, KOSS die Margin-Anforderungen erhöht und bestimmte Restriktionen für den Handel mit deren Optionen erlassen wurden. Das sind genau die Aktien – also GameStop, AMC Entertainment, BlackBerry, Koss und andere –, die in der vergangenen Woche im Fadenkreuz der Zocker standen. Aber wer bitte glaubt denn, dass genau diese Aktien erneut attackiert werden? Diese „Weide“ ist doch abgegrast, die Herde längst weitergezogen zu einem neuen Ziel! Die Broker hecheln mit solchen Aktionen dem Geschehen nur hinterher. Und falls sie diese Maßnahmen nur ergriffen haben, weil die Aufsichtsbehörden dies veranlassten, dann gilt für die Behörden das Gleiche. Aktuell stehen offenbar Shortseller im Visier der Zocker. In den US-Finanzmedien wimmelt es nur so vor Berichten und „Tipps“ dazu. Da werden das Listing der 50 am stärksten geshorteten Aktien eines einschlägigen Index von Goldman Sachs veröffentlicht, die Positionen von Hedgefonds seziert, die sich auf Short-Trades spezialisiert haben, usw. Sprich: Die Medien klatschen Beifall und „helfen“ der Masse, die bisher abseitsstand, die nächste „Chance“ zu finden, um ebenfalls an diesem „Spiel“ teilzunehmen. Warum das Desaster am Ende unausweichlich ist Spätestens jetzt ist klar, dass dies alles in einem großen Desaster enden muss. Wann es so weit ist und wie das aussieht? Keine Ahnung. Aber ich vermute, dass die Zocker sich anderen Aktien oder Anlagen zuwenden werden – zum Teil auch, weil sie es müssen. Vielleicht werden es zunächst weiterhin Werte sein, die im Visier von Shortsellern stehen – heute stand aus diesem Grund z.B. der Silberpreis auf dem „Programm“ der Zocker. Aber vielleicht finden die Shortseller auch ein Rezept gegen diese Angriffe und zwingen die Zocker, auf andere Ziele auszuweichen. Diese sind dann womöglich nicht mehr so einfach zu stürmen. Tendenziell dürfte es also für die Zocker immer schwerer werden. Und vermutlich wird ihnen auch irgendwann die eigene Selbstüberschätzung zum verhängnis werden. Fazit Die umfassenden Zocker-Angriffe der jüngsten Zeit, die erstmals in der Börsengeschichte durch soziale Medien koordiniert geschehen, stellen eine neue Qualität einer „Dienstmädchenhausse“ dar. Dies kann aus meiner Sicht dazu führen, dass die Übertreibung schneller eskaliert als in früheren Rallys. Erste Beispiele haben wir ja auch schon gesehen, wie die rasanten Kursanstiege z.B. bei Tesla und vielen „Wasserstoffaktien“ in kürzester Zeit zeigten. Die Angriffe werden sich nach und nach auf andere Ziele verlagern (müssen), aber zwangsläufig irgendwann totlaufen. Das markiert vermutlich das Ende der Euphorie und den Anfang einer größeren Korrektur oder gar eines Bärenmarkts. Achten Sie also auf weitere Übertreibungszeichen und sichern Sie Ihr Depot und Ihre Gewinne gegebenenfalls ab. Und es kann auch nicht schaden, Ihr Pulver nun wieder trockener zu halten. Mit besten Grüßen Ihr Torsten Ewert
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