Kurt Kister gibt Einblick in deutsche Alltagsmomente
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15. November 2024
Deutscher Alltag
Guten Tag,
fast möchte man selbst einer Koalition vorsitzen, um sie dann auflösen zu können. Bei so einer Koalitionsauflösung passieren so viele interessante Dinge, dass man als  Phänomenologe der öffentlichen Zustände in ein paar Jahren sagen wird: Gott sei Dank, das habe ich auch noch erlebt. Man hat nicht nur staunend dabeigesessen, wie ein politisch, wenn nicht kognitiv und auch sonst Beeinträchtigter zweimal Präsident der USA wurde, oder Uli Hoeneß zuerst FC Bayern-Präsident war, dann ins Gefängnis geriet und anschließend wieder Präsident, später Ehrenpräsident wurde. (Ähnlichkeiten zwischen beiden Präsidenten sind nicht vorhanden, dennoch könnte man sie künstlerisch ausbauen.) Und jetzt durfte man auch noch erleben, dass sich Olaf Scholz als „cool“  bezeichnete, und ein gewesener FDP-Minister sein Schicksal mit einem selbst komponierten Song mit dem Titel „Gehen, um zu stehen“ untermalte. Der Verdacht drängt sich auf, sein Parteichef habe als Motto schon seit Beginn der Ampelkoalition die Inversion dieses Titels gehabt: „Stehen, um zu gehen“.

Ein weiterer Aspekt dieser bewegten Zeiten ist die Tatsache, dass Menschen zu Experten werden, denen man das gar nicht zugetraut hätte. Der bisherige Finanzminister Christian Lindner nennt sich neuerdings „Experte für SPD und Grüne“, so wie das auch der hessische Ministerpräsident Boris Rhein tut, den manche außerhalb Hessens immer noch für einen Herrn von der Sparkasse halten, weil er so aussieht. Zumindest bei Lindner könnte dessen Berufung auf ein Rot-Grün-Expertentum auf seine künftige berufliche Orientierung hindeuten: Etliche Menschen, die aus einem anständigen Beruf ausgeschieden sind, verdingen sich hinterher als Coaches, Berater oder Vortragsredner, um das Volk (und sich selbst) von ihren Erfahrungen profitieren zu lassen.

Speziell in Berlin gibt es Tausende solcher has-beens mit umfangreicher Expertise. Und weil auch die Zahl nachfragender Institutionen zugenommen hat – Online-Dienste jeder Art und Vertikalität, Stiftungen mit Podiumsdiskussionen, hybride Gesprächszirkel, Podcasts etc. –, haben gewesene Amtsinhaber und Innen möglicherweise bessere Zukunftsaussichten als Amtierende. (Ich kann das beurteilen, ich hatte selbst mal ein Amt, und schreibe immer noch in der Gegend rum.) Auch wenn die traditionellen Medien in einer Strukturkrise stecken, die Laber-Industrie läuft gut.

Der Bedarf an Experten ist also größer geworden, an Menschen, die anderen Menschen erklären, wie das Leben, die Politik und das Sein funktionieren. Wer eine Buchhandlung betritt (gerade SZ-Leser tun das immer noch), gewinnt den Eindruck, dass etwa ein Drittel der Bücher Lebenshilfe offeriert. Sie tragen so großartige Titel wie „Wenn das Kind in dir noch immer weint“ oder „Wofür stehen Sie morgens auf?“. Nahezu unabdingbar sind für solche Buchtitel Fragewörter (wie, warum, wo) und Positivwörter (Kraft, Wertschätzung, Leben). Ein idealer Titel könnte etwa lauten: „Du bist super. Wie Wertschätzung die Kraft des Lebens stärkt.“ (Ich habe vorsichtshalber nicht gegoogelt, ob es ein Buch dieses Titels gibt.) Auch Floskelfragen wie „Warum nur?“ oder „Warum bloß?“ am Ende von Titeln oder sogenannten Teasern sind Teile der achtsamen W-Kultur. Manchmal entwickeln sich aus solchen Überschriften binnen weniger Wochen Bücher.

Wahrscheinlich hat es seit dem Beginn der Aufzeichnungen noch nie so viele Möglichkeiten gegeben, sich Rat zu holen, wie heute. Das ist prinzipiell gut, denn es gab auch noch nie so viele verwirrte, unsichere, verstörte Menschen wie heute. Das mag damit zusammenhängen, dass es noch nie so viel Heute wie heute gab.

Ich erinnere mich noch ganz gut an den vorletzten Koalitionsbruch, als Hans-Dietrich Genscher mit Helmut Kohl ausmachte, Helmut Schmidt mit einem konstruktiven Misstrauensvotum zu stürzen. Das war für das Volk auch – heute würde man sagen: – spannend, aber es machte insgesamt weniger Lärm als die Scholz-Lindner-Chose. Kohl propagierte damals eine „geistig-moralische Wende“, was Markus Söder heute mit genau gleichem Wortlaut auch tut. Aber von Söder ist man Wenden ohnehin gewohnt.

Damals jedenfalls fürchtete keiner darum, dass die Demokratie in Gefahr sei, was sie heute auch nicht ist, auch wenn das Friedrich, der Merz, gerade behauptet hat. Es ist halt eine Koalition geplatzt, und jene, die der SPD und den Grünen Regierungsfähigkeit, Sorgfalt, Weitsicht etc. absprechen, müssen wahrscheinlich nächstes Jahr mit einem oder beiden koalieren. Zumindest waren die Menschen 1982 nicht ganz so verstört und verwirrt, was wahrscheinlich auch daran lag, dass es viel weniger Experten gab, keine politischen Talkshows und vor allem keine Mobiltelefone, in denen all die Experten wohnen und jederzeit herbeirufbar sind. „Resilient“ war auch niemand und wenn doch, wusste er oder sie es nicht.

Nein, nein, 1982 war nichts besser. Nur anders. Ratschläge gab es damals auch viele, meistens von älteren Männern, die den Krieg noch erlebt hatten. Experten der besonderen Art. Viele dieser Ratschläge waren wohlfeil. Heute sind auch viele Ratschläge wohlfeil, es sind nur deutlich mehr geworden. Neulich zum Beispiel hat der Journalistenverband sowohl dazu geraten, dass man aufpassen muss, wenn man über Trump schreibt, als auch dazu, dass man in Israel, Gaza und in Libanon vorsichtig sein soll als Journalist. Ich glaube, mein Expertentum würde weit genug reichen, um ähnliche Ratschläge zu geben. Das wäre vielleicht eine Option für das zukünftige Rentnerleben.
Kurt Kister
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