Heribert Prantl beleuchtet ein Thema, das Politik und Gesellschaft (nicht nur) in dieser Woche beschäftigt.
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23. Juli 2023
Prantls Blick
Die politische Wochenschau
Prof. Dr. Heribert Prantl
Kolumnist und Autor
SZ Mail
Guten Tag,
vor 75 Jahren begannen die Vorbereitungen. Die dreiunddreißig Verfassungsfachleute überlegten, wie sie aus den zerbombten Städten der drei Westzonen zum Verfassungskonvent nach Herrenchiemsee kommen. Sie sichteten ihre Unterlagen, packten halbfertige Verfassungskonzepte zusammen. Die Föderalisten rüsteten zum großen Ringen mit den Zentralisten.  Der Oberföderalissimus, der bayerische CSU-Staatsminister Anton Pfeiffer als Organisator der Tagung, schrieb an seiner Auftaktrede. „Auf Ihre Schultern ist vor der Geschichte des deutschen Volkes eine überwältigende Verantwortung gelegt.“ Die dreiunddreißig Herren sollten den Entwurf für eine provisorische Verfassung ausarbeiten. 

 Zu ihnen gehörten Sozialdemokraten wie der Tübinger Staatsrechtsprofessor Carlo Schmid, der Fein- und Schöngeist der SPD, Justizminister in Württemberg-Hohenzollern. Zu ihnen gehörte Hermann Louis Brill, damals Leiter der Staatskanzlei in Hessen, der schon 1947 dafür plädiert hatte, die Länder der drei westlichen Besatzungszonen zu einem Staat zusammenzufassen. Brill war Widerstandskämpfer gegen Hitler gewesen.  Die beiden SPDler versuchten, zwischen der extrem föderalistischen Position Bayerns und den extrem zentralistischen Vorstellungen ihres SPD-Parteichefs Kurt Schumacher zu lavieren. Die Föderalisten hatten die drei westlichen Militärgouverneure auf ihrer Seite; die hatten am 1. Juli 1948 in den „Frankfurter Dokumenten“ die Ministerpräsidenten aufgefordert, eine Versammlung einzuberufen, die „eine demokratische Verfassung vorbereiten soll, welche für die beteiligten Länder eine Regierungsform des föderalistischen Typs schafft, die am besten geeignet ist, die gegenwärtig zerrissene deutsche Einheit wieder herzustellen.“ 

Die Herren von Herrenchiemsee haben sich dann an Martin Luther gehalten. Sie haben befürchtet, dass die Welt untergeht – und trotzdem, 14 Tage lang, die Bäumchen gepflanzt. Es war dies die erfolgreichste Pflanzaktion der deutschen Geschichte: Glaubensfreiheit, Gewissensfreiheit, Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit, Koalitionsfreiheit, Berufsfreiheit. „Freiheit“ war das Zauberwort nach all den Jahren der Unfreiheit; die Freiheiten waren Garantie und Verheißung zugleich. Mein Newsletter wird in den nächsten Wochen immer wieder auf die Herrenchiemseer Pflanzaktionen eingehen  - und fragen, was daraus geworden ist.

Achtung vor der Meinung des Anderen 

Mein SZ-Plus-Text heute („Die Demokratie und die Andersdenkenden“) befasst sich mit der Meinungsfreiheit – von der Frühzeit der Bundesrepublik bis heute. In der Frühzeit, der Adenauer-Zeit, wurden Leute drangsaliert, die gegen die Wiederbewaffnung protestierten. Dergleichen sollte sich heute, bei Leuten, die gegen immer mehr Waffenlieferungen an die Ukraine protestieren, nicht wiederholen. Ich schildere, wie Johannes Varwick, ein renommierter Ordinarius für internationale Beziehungen an der Universität Halle, ins sicherheitspolitische Abseits gedrängt wird, weil er im Ukraine-Krieg für Friedensverhandlungen wirbt. Solche Ausgrenzung tut der Demokratie nicht gut. Demokratie braucht die respektvolle Diskussion über den richtigen Weg, sie braucht die Achtung vor der Meinung des Anderen. 
SZPlus Prantls Blick
Die Unfähigkeit, andere verstehen zu wollen
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Ich wünsche Ihnen zuversichtliche Julitage.
Heribert Prantl
Kolumnist und Autor der Süddeutschen Zeitung
SZ Mail
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Prantls Leseempfehlungen
Deutscher Sachbuchpreis
Das Welken des Wiesenschaumkrauts
Das alte bäuerliche Leben ist verschwunden; in den Fünfziger- und Sechzigerjahren des letzten Jahrhunderts ging es unter. Ewald Frie, als neuntes von elf Kindern auf einem Bauernhof im Münsterland aufgewachsen, hat diesen Untergang erlebt. Und weil er heute Professor für neuere Geschichte ist, verlässt er sich nicht einfach nur auf seine eigenen Erinnerungen; er hat seine Geschwister befragt und ihre Antworten eingebettet in eine packende Familien-, Sozial-, Bildungs- und Zeitgeschichte. Die Geschwister sind zwischen 1944 und 1969 geboren, die Perspektiven ändern sich entsprechend. Frie hat für das Buch zu Recht den deutschen Sachbuchpreis erhalten: Es ist das anrührende Protokoll des Untergangs einer Welt, in der die Menschen erst festen und dann immer weniger Halt hatten in Religion, in harter körperlicher Arbeit, in Sitten und Gebräuchen, in Riten und Ritualen, die dem Alltag bisweilen ein zauberhaftes Kleid gaben. Aber das Wiesenschaumkraut, mit dem die Bauernkinder damals den Marien-und Maialtar in der Wohnküche schmückten, ist, wie anderes auch, bald welk geworden.  

 Vieles von dem, was Frie aus dem Münsterland erzählt, kenne ich aus der Oberpfalz. Es gibt überraschend viele Parallelen zwischen dem katholischen Nordwesten Deutschlands und dem katholischen Südosten an der Grenze zu Böhmen. Manchmal ist mir beim Lesen, als würde ich durch meine eigene Kindheit blättern. Frie fasst sein erzählerisches Protokoll zusammen mit dem melancholischen Buchuntertitel: „Der stille Abschied vom bäuerlichen Leben“. So still wie Frie im Münsterland habe ich diesen Abschied in der Oberpfalz nicht erlebt. Ich höre noch den alten, buckeligen Knecht Gottfried schreien, den sein Bauer aus Wut und Zorn über die neue Zeit, die nicht mehr die seine war, halb tot prügelte. Der Knecht verkam so wie der Hof. Und der Bauer erhängte sich im Stall. Es war kein stiller, es war so oft ein bitterer Abschied von der bäuerlichen Welt, die in der Oberpfalz, anders als im Münsterland, meist eine kleinbäuerliche war. Und als dann in den Achtzigerjahren die CSU in diesem armen, aus der Zeit gefallenen Land eine atomare Wiederaufarbeitungsanlage bauen wollte, weil man glaubte, die dort seien für alles dankbar – da begann der laute Widerstand. Es waren keine stillen Zeiten. 

Ewald Frie: Ein Hof und elf Geschwister. Der stille Abschied vom bäuerlichen Leben. Das Buch ist vor kurzem im Verlag C.H. Beck erschienen, es hat 191 Seiten und kostet 23 Euro.
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Flüssiggas
Ein Terminal im Paradies
An der Universität in Wien gibt es Vorlesungen zur „Poetik des Journalismus“. Wer wissen will, was das ist, der sollte Texte der SZ-Kollegin Renate Meinhof lesen. Ihre aktuelle Reportage über das Flüssiggas-Terminal, das auf der Insel Rügen gebaut werden soll, beginnt so: „Oberhalb von Dubnitz, wo man den aufsteigenden, grobsteinigen Weg hinterm alten Gutshaus durch die Felder nimmt, wird die Aussicht freier mit jedem Schritt. Salzwind kämmt die widerständigen Büsche rechts und links des Pfades. Lerchen stehen in der Luft. In der Senke, zur See hin, grasen Pferde. Nirgends ein Mensch.“ Adalbert Stifter fällt einem da ein, und das hat einen Grund, der auch mit Meinhofs Thema zu tun hat: Der „Hochwald“ aus dem Jahr 1857 ist der erste ökologische Roman. Es geht bei Meinhof um Ökologie.  Aber anders als bei Stifter, wo auf tausend Seiten nichts passiert, passiert bei Meinhof viel: Es wird einem klar, warum viele Menschen „fassungslos“ darüber sind, wie die Insel Rügen der Industrialisierung geopfert wird. Und bei vielen Rüganern, die bei diesem Thema nur noch abwinken, die gar nichts mehr sagen, weiß man, schreibt Meinhof, wem sie bei der nächsten Wahl ihre Stimme geben werden … Meinhofs Text in der SZ vom Freitag, 21. Juli, gehört zu den journalistischen Texten, die man auch gern zwei-, dreimal liest.
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