Heribert Prantl beleuchtet ein Thema, das Politik und Gesellschaft (nicht nur) in dieser Woche beschäftigt.
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10. September 2023
Prantls Blick
Die politische Wochenschau
Prof. Dr. Heribert Prantl
Kolumnist und Autor
SZ Mail
Guten Tag,
Oskar Lafontaine wird nächsten Samstag achtzig Jahre alt. Er sitzt vor seinem Haus im saarländischen Merzig, ganz nahe der französischen Grenze. Wir telefonieren. Lafontaine hat Zeit. Er schaut, sagt er, auf den Teich, er hört das Wasser glucksen, er sieht dem Reiher zu, der seine Fische frisst. Seine Frau Sahra ist noch in Berlin. Lafontaine wartet, er liest: Kurzgeschichten von Somerset Maughan, die mag er gern, er hat sie schon einmal gelesen, damals, vor fast 25 Jahren, als er auch Zeit hatte, als er zurückgetreten war als Finanzminister und SPD-Vorsitzender; und da liegt das neue Buch von Michel Houellebecq auf dem Tisch, Lafontaine mag es nicht, „Porno-Quatsch“, sagt er. Aber ansonsten schätzt er den französischen Autor, den ein Rezensent den „radikalsten Schriftsteller unserer Zeit“ genannt hat. Das war nach dem Roman „Unterwerfung“, mit dem Houellebecq 2015 bekannt geworden ist und in dem geschildert wird, wie Frankreich von einem islamistischen Präsidenten regiert wird. 

Der vollendet Unvollendete

Lafontaine hat Zeit. Die wilden Jahre liegen hinter ihm. Er wartet auf kein Amt mehr, auf keine Spitzenkandidatur. Dreizehn Mal war er bei Wahlen der Spitzenkandidat, erst für die SPD, dann für die Linke, fast immer mit guten, ja mit spektakulären, manchmal mit sensationellen Ergebnissen – nur einmal nicht; das war 1990, als er, kurz nach der Wiedervereinigung und geschwächt von einem fast tödlichen Attentat, als Kanzlerkandidat der SPD gegen den amtierenden Helmut Kohl antrat und mit 33,5 Prozent der Stimmen unterlag. Helmut Kohl hatte Respekt vor seinem Gegner. „So macht man das“, ätzte er gegen seinen ehemaligen Generalsekretär Heiner Geißler, als Lafontaine im November 1995 erfolgreich gegen den damaligen Vorsitzenden Rudolf Scharping geputscht und sich auf dem Parteitag in Mannheim zum SPD-Parteichef hatte wählen lassen. Geißlers Aufstand gegen Kohl war nämlich 1989 auf dem CDU-Parteitag in Bremen gescheitert. 

Wann und wo er am glücklichsten war, frage ich ihn. Lafontaine beginnt zu erzählen â€“ von seiner Zeit als Oberbürgermeister in Saarbrücken („die Stadt war mein Wohnzimmer“), von den Jahren als saarländischer Ministerpräsident, von Willy Brandt. Ihn und Gorbatschow nennt er seine Vorbilder. Im Saarland war Lafontaine „der Napoleon von der Saar“, hier hat er sich politisch habilitiert, hier begann der steile Aufstieg, aus dem der Sturz ins schier Bodenlose wurde, dem dann ein Wiederaufstieg folgte, der beispiellos ist in der Geschichte der Bundesrepublik – mit der von ihm mitgegründeten Partei „Die Linke“, aus der er dann im März 2022, wie zuvor aus der SPD, wieder ausgetreten ist. Wollte man ein Symbol wählen für sein politisches Leben: Es wäre die Achterbahn. Lafontaine ist der vollendet Unvollendete, einer der ungewöhnlichsten Politiker der bundesdeutschen Geschichte; der genialste von Willy Brandts Enkeln. 

Oskars E-Bike

Oskar Lafontaine wartet. Er wartet auf seine Frau Sahra. Mit dieser Frau, die demnächst eine neue linke Partei gründen wird, ist er glücklicher als mit den Parteien, um die und für die er gekämpft hat. Die Programmatik dieser neuen linken Partei wird nach Lafontaine schmecken – mit einer rechten Gesellschaftspolitik und einer linken Wirtschaftspolitik. Die Wagenknecht-Partei wird einigen Erfolg haben, vielleicht noch mehr Erfolg als einst die Gysi/Lafontaine-Linke. Und Oskar Lafontaine wird nicht recht wissen, ob er sich darüber freuen oder grämen soll – grämen, weil die gemeinsame Zeit mit seiner Frau zu Hause im Saarland noch knapper wird als jetzt. 

Das Wochenende wird schön. Es steht vielleicht eine gemeinsame Fahrrad-Tour des Ehepaars Wagenknecht/Lafontaine an. Deutlich über hundert Kilometer lang, entlang an Saar und Mosel. Er selbst fährt, gesteht Lafontaine, seit Kurzem mit einem E-Bike. Früher hatte er den Antrieb in sich. Aber er wird ja achtzig. Die Geschichte kann kommen. 
SZPlus Prantls Blick
Alles hat ein Ende, die Wurst hat zwei, Oskar Lafontaine hat vier
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Ich wünsche Ihnen einen schönen Altweibersommer – und hoffe, dass der auch weiterhin so heißen darf.
Heribert Prantl
Kolumnist und Autor der Süddeutschen Zeitung
SZ Mail
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Prantls Leseempfehlungen
50 Jahre Putsch in Chile
Seine Verse waren zärtlich, seine Verse waren stark
Vor fünfzig Jahren wurde Salvador Allende in den Selbstmord getrieben. Ein Militärputsch unter dem General Augusto Pinochet, gefördert von den Amerikanern und gepäppelt mit Waffen auch aus Deutschland, stürzte den demokratisch-sozialistischen Präsidenten Chiles. Die Putschisten bombardierten den Präsidentenpalast von Flugzeugen aus, Panzertruppen stürmten den Palast. Der frei und demokratisch gewählte Präsident Allende, ein Bauernsohn und studierter Arzt, beging Suizid.

Günther Wessel lässt in seinem klugen Buch die Träume und Visionen Allendes wieder auferstehen. Das Buch ist eine sehr feine, sehr respektvolle und sehr kundige Würdigung eines großen Politikers, an dem sich die USA sehr und ein wenig auch die Bundesrepublik versündigt haben. Der damalige US-Außenminister Kissinger hat eingestanden, dass die USA es – gemeint ist der Putsch â€“ zwar „nicht getan haben“, aber sie hätten die größtmöglichen Voraussetzungen dafür geschaffen: Waffen, Waffen, Waffen. Vielleicht war es auch noch mehr, aber viele Daten und Akten unterliegen noch der Geheimhaltung. 

Zu den Lieferanten zählte auch die Bundesrepublik, deutsche Waffen gingen an die berüchtigte Colonia Dignidad, eine Sekte, die von Franz Josef Strauß politisch unterstützt wurde. Die Sekte wiederum unterstützte den Putsch, von dem Strauß sagte: „Angesichts des Chaos, das in Chile geherrscht hat, erhält das Wort Ordnung für die Chilenen wieder einen süßen Klang“. In Santiago de Chile wurde Strauß ein paar Jahre später die Ehrendoktorwürde für Rechtswissenschaft verliehen – von einem Regime, dessen Chef nach dem Staatstreich gesagt hatte: „Die Demokratie muss gelegentlich in Blut gebadet werden, damit sie fortbestehen kann.“

Es war das Blut von über 13 000 Menschen, unter ihnen der berühmte Sänger und Dichter Victor Jara. Er gehörte zu den Vierzigtausend, die von den Militärs im Nationalstadion zusammengetrieben worden waren. Hier schrieb er sein letztes Lied: „Wie schwer fällt einem das Singen, wenn man vom Grauen singen muss.“ Ein letztes Mal sang er dort sein Lied „Venceremos“, die inoffizielle Nationalhymne Chiles, bevor ihm die Soldaten die Hände und Finger zertrümmerten, die so behände Gitarre spielen konnten. Sie marterten und erschossen ihn. Dies war der Beginn einer Militärdiktatur, die bis 1990 dauerte. „Seine Verse waren zärtlich, seine Verse waren stark“ – so heißt es im Victor-Jara-Lied, das Mitte und Ende der siebziger Jahre auf unzähligen Festivals in Deutschland gesungen wurde. Heute trägt das Stadion in Santiago seinen Namen.

„Eine chilenische Geschichte“ heißt der Untertitel des Buches, das akribisch und spannend beschreibt, wie es zur chilenischen Revolution und zum Putsch kam – und wie es dem Land in der Diktatur und nach deren Ende erging. Die amerikanische Haltung zu alledem illustriert ein Satz von Henry Kissinger, damals Sicherheitsberater des US-Präsidenten Nixon: „Ich weiß nicht, warum wir herumstehen und zusehen sollen, wie ein Land nur wegen der Unverantwortlichkeit seiner eigenen Bevölkerung kommunistisch wird.“ Kissinger sagte das, noch bevor Allende überhaupt gewählt worden war. Ein wenig ist die chilenische Geschichte auch bundesdeutsche Geschichte:  Der Christdemokrat Norbert Blüm kämpfte 1987 in Chile bei Diktator Pinochet, von Franz Josef Strauß dafür heftig attackiert, für die Freilassung von 16 zum Tod verurteilten Häftlingen – für "Kommunisten" und "Verbrecher", wie Strauß höhnte. Im Januar 2004 stand Blüm dann in der Markthalle von Santiago, als ein alter Mann auf ihn zustürzte, ihn herzte und küsste. Es war einer der damals Geretteten.

Günther Wessel: Salvador Allende. Eine chilenische Geschichte. Das Buch ist vor Kurzem im Links-Verlag erschienen Es hat 256 Seiten und kostet 25 Euro. Große Leseempfehlung!
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Soziologe Hartmut Rosa
Kein Anker in der Welt
„Ich denke eigentlich nie weiter als bis zu den Alpen“, sagt der Soziologe Hartmut Rosa. Das stimmt natürlich nicht. Das SZ-Interview der Wochenendausgabe ist ein Beispiel für die Weite seines Denkens. Rosa redet da gerade vom Urlaub, in dem er, weil sonst so viel unterwegs, am liebsten zu Hause im Schwarzwald bleibt. Rosa analysiert die massive Erschöpfung der Post-Corona-Gesellschaft, er beschreibt eine verdüsterte Weltsicht und Weltwahrnehmung. Das sichere Gefühl, einen Anker zu haben in der Welt, sei abhandengekommen. Rosa versucht zu zeigen, wie die Suche nach einem Halt aussehen könnte.
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