Heribert Prantl beleuchtet ein Thema, das Politik und Gesellschaft (nicht nur) in dieser Woche beschäftigt.
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21. Juli 2024
Prantls Blick
Die politische Wochenschau
Prof. Dr. Heribert Prantl
Kolumnist und Autor
SZ Mail
Guten Tag,
in Polen zur Zeit der Rechtsaußen-Regierung der PiS-Partei hat sich gezeigt: Es gibt unendlich viele Methoden, ein Verfassungsgericht zu demolieren. Es hat sich auch gezeigt, dass der destruktiven Kreativität bei der Behinderung des Rechtsstaats keine Grenzen gesetzt sind. Deswegen läuft es einem kalt den Rücken herunter, wenn in einem deutschen Gerichtssaal gedroht wird: „Wenn wir dran sind, seid ihr alle weg.“ Die Schilderung einer solchen Drohung in einem Gerichtssaal war der Gänsehaut-Moment bei einer Veranstaltung des Bayerischen Richtervereins und des Deutschen Richterbundes am vergangenen Mittwoch im Münchner Justizpalast. Es ging dort um die Frage: „Was schützt den Rechtsstaat von innen?“ Der Titel der Veranstaltung war: „Brüchiges Bollwerk“.

Wie lässt sich das Bollwerk Justiz gegen Angriffe der AfD stabilisieren? Dieses Problem trieb die Diskutanten um; unter ihnen war auch Hans-Jürgen Papier, der frühere Präsident des Bundesverfassungsgerichts; er warb dafür, der Justiz und dem Bundesverfassungsgericht im Grundgesetz künftig einen eigenen Abschnitt zu widmen. Ob das reicht, um die Durchsetzung radikaler politischer Ziele abzuwehren? Ob das reicht, um den Exzessen von finster entschlossenen Feinden des Rechtsstaats Paroli zu bieten? Ob das reicht, um eine Finsternis zu verhindern?

Man darf nicht warten, bis es zu spät ist

Erich Kästner, der sich einst als Chronist der nationalsozialistischen Verbrechen begriff, gab schon vor Jahrzehnten einen anderen Rat. Er hatte bei der Bücherverbrennung am 10. Mai 1933 aus nächster Nähe beobachtet, wie seine Werke ins Feuer geworfen wurden; er hatte gehört, wie der NS-Propagandaminister Goebbels ihn als dritten Namen nannte und als Asphaltliteraten „wider den deutschen Geist“ beschimpfte. Kästner gehörte zu den kritischen Geistern, die nicht emigrierten und es trotzdem schafften, die Nazi-Zeit zu überleben. Sein Fazit war: „Man darf nicht warten, bis aus einem Schneeball eine Lawine geworden ist. Man muss den rollenden Schneeball zertreten. Die Lawine hält keiner mehr auf. Sie ruht erst, wenn sie alles unter sich begraben hat.“

Wer den Gang der Dinge in Thüringen beobachtet, wo der Neonazi und AfD-Fraktionschef Björn Höcke nach der Macht greift, der sieht, dass der Schneeball dabei ist, zur Lawine zu werden. Ein Lamentieren am Rand der politischen Piste hilft da nichts. Kleine Reformen, auch wenn man sie Brandmauern nennt, helfen da auch nichts. Es braucht da das große Besteck, es braucht da die großen Instrumente der wehrhaften Demokratie. Der vergessene Artikel 18 des Grundgesetzes muss genutzt werden, weil es auf dessen Basis möglich ist, die Wählbarkeit von Höcke und Co. zu verhindern. Und auf der Basis des Artikels 21 Absatz 2 des Grundgesetzes muss ein Parteiverbotsverfahren gegen die AfD oder jedenfalls gegen ihre aggressivsten Landesverbände eingeleitet werden.

Darum geht es mir heute in meinem SZ-Plus-Text, den ich „Lawinenschutz für die Demokratie“ überschrieben habe. Ich plädiere darin dafür, die scharfen Instrumente der wehrhaften Demokratie zu nutzen. Wann, wenn nicht jetzt? Es gilt, eine Machtübernahme durch die AfD zu verhindern. Man darf nicht warten, bis Neonazis die Parlamente, etwa in Thüringen, Sachsen oder Brandenburg, dirigieren. Man darf nicht warten, bis sie die Lehrpläne an den Schulen diktieren. Man darf nicht warten, bis sie ihr Personal an die Schaltstellen der Gerichte und der Verwaltung schicken. Man darf nicht warten, bis es zu spät ist.
SZPlus
Meinung
Prantls Blick
Lawinenschutz für die Demokratie
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Ich wünsche uns den Mut und die Kraft, die es braucht, um die Lawine aufzuhalten. Sie rollt. Da darf man sich von einem schönen Sommer nicht täuschen lassen.

Ihr
Heribert Prantl
Kolumnist und Autor der Süddeutschen Zeitung
SZ Mail
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Prantls Leseempfehlungen
SZPlus
Lorbeer und Lavendel
In der vergangenen Woche wurde der Kollege Jürgen Busche beerdigt. Er war einst mein Vorgänger als Leiter der innenpolitischen Redaktion der Süddeutschen Zeitung. Busche war kein Bayer, sondern ein Brandenburger, aber er war, wie man in Bayern sagt, ein „Gwapppelter“. Er war ein gewiefter, ein hartnäckig lustvoller Diskutant. Wenn er mit Konservativen zusammen war, gab er sich als Liberaler. Wenn er mit Liberalen parlierte, war er krachkonservativ. Der studierte und begeisterte Althistoriker war also einer, der in seiner eigenen Person die Dialektik vorstellte.

Das Wort „gwappelt“ kommt von Wappen, die Gwappelten waren in Bayern die Familien, die ein eigenes Wappen führten. Der Kollege hätte ein Wappen mit einem Busch verdient, darauf Lorbeer und Lavendel. So ein Wappen möchte ich ihm jetzt aufs Grab legen. Er liebte ja die Rituale, die religiösen vor allem, und er wusste um ihre Bedeutung und ihre Geschichte. Seine eigene Beerdigung hätte ihm gefallen: Der ultramontane Katholik fand, nach einem Trauergottesdienst in der katholischen Ludwigskirche in Berlin-Wilmersdorf, seine letzte Ruhestätte auf dem alten evangelischen Sankt-Matthäus-Kirchhof in Berlin-Schöneberg. Detlef Esslinger hat in der SZ vom 1. Juli einen schönen Nachruf auf „einen konservativen Anarchisten“ geschrieben.
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Beim Sinnieren über das Leben, das Sterben und den Kollegen Busche, der ein großer Bücherfreund war, ist mir ein wunderbares Buch über die Rituale des Lebens und Sterbens eingefallen, das ich Ihnen nachfolgend vorstelle.
Das Totenkissen
Die alte Tanja, eine der Heldinnen des Buches, erinnert mich an meine Oma Maria - nicht nur deshalb, weil sie ihre langen Haare zu einem Zopf geflochten, zu einem Dutt zusammengerollt und mit einer Haarnadel festgesteckt hat. Vor allem deshalb, weil für die alte Tanja, wie bei meiner Großmutter auch, das Sterben, der Tod und die zugehörigen Rituale zum Lebensalltag gehörten. Die alte Tanja ist die Urgroßmutter von Valery Tscheplanowa, der Autorin des Buches. Das zauberhafte literarische Erstlingswerk dieser 1980 im damals sowjetischen Kasan geborenen und in Deutschland aufgewachsenen Schauspielerin ist eine autobiografische Spurensuche in Miniaturen. Liebevoll, kraftvoll und humorvoll verflicht sie - wie die russische Urgroßmutter ihr langes Haar - die Lebensfäden der alten Tanja, ihrer Tochter Nina, ihrer Enkeltochter Lena und ihre eigenen. Das Haus der alten Tanja ist der Ort der frühen Kindheit der Autorin, ein magischer Lebensort, in dem der Tod einen selbstverständlichen Platz hat.

Eine meiner Lieblingsstellen im Buch ist diese: „In der Ecke hängt eine Ikone an der Wand. Sie ist geschmückt mit Plastikblumen und Kerzen. Das Mädchen schaut sich die Ikone oft an, die Ikone und die Truhe, in der die Sterbekleider und das Totenkissen ihrer Urgroßmutter Tanja liegen. Das sind die Boten dieser anderen Welt, von der die Alte oft erzählt, die Engelswelt, für die sie das ganze Jahr Zwiebelschalen aufhebt, um die Eier bunt zu färben zu Ostern, und zu der sie betet am Morgen und am Abend. Die Urgroßmutter sammelt ihre Haare schon ihr Leben lang und füllt damit ihr Totenkissen. Viel fällt nicht mehr ab von dem dünnen Rattenschwanzzopf. Nach dem Kämmen wird das Haar sorgsam in den kleinen bestickten Kissenbezug gelegt. Wenn das Mädchen ausnahmsweise mal allein ist, öffnet es die Truhe und sieht sich diese einzelnen Sterbebegleiter an: das Kissen, das Totenhemd, die Totenschuhe. So wie an dem Brunnen mit dem Pferd, starrt sie auf die Dinge, als trügen sie Geschichten aus einer anderen Welt.“

Die neue Zeit nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und der Mauer hat nichts Gutes für die alte Tanja gebracht. Die Familie wird zerrissen, und sie versteht die Welt nicht mehr. „Oft hält sie die Hände ihrer Urenkeltochter in ihren großen, rauen Händen und schüttelt den Kopf“, erinnert diese sich. Und auch an ihre besorgte Frage: „Wie willst du damit arbeiten, Kind, mit deinen kleinen Händen?“ Wie, das zeigt Valery Tscheplanowa auf der Bühne und auf den 192 Seiten ihres großartigen Romans.

Valery Tscheplanowa: Das Pferd im Brunnen. Das Buch ist 2023 im Rowohlt Verlag erschienen, hat 192 Seiten und kostet 22 Euro.
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