| | | | | 13. September 2024 | | Deutscher Alltag | | | |
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| | | | | nach dem Urlaub im Buchladen. Halt, Urlaub? Hat man eigentlich noch âUrlaubâ, wenn man nicht mehr arbeitet, also jedenfalls offiziell in keinem Arbeitsverhältnis â hatte ich jemals, schauder, ein Verhältnis mit oder zu âmeinemâ Arbeitgeber? â mehr steht? Und ist, wie in meinem Fall, das Verfassen irrelevanter Texte eigentlich Arbeit, von der ich Urlaub nehmen müsste? Oder ist nicht vielmehr die Lektüre dessen, was mal âmeineâ Zeitung war, manchmal so anstrengend, dass ich mich davon erholen muss? âUrloubâ, so finde ich im Netz, soll angeblich im Mittelhochdeutschen âdie Erlaubnis, wegzugehenâ ausgedrückt haben. Diese Freiheit beschneidet der Arbeitgeber in aller Regel dadurch, dass er seinen Arbeitnehmern jedweden Geschlechts nur eine gewisse Zahl von Tagen einräumt, in denen sie weggehen dürfen und trotzdem bezahlt werden. Darauf kommt es beim Urlaub, weniger beim Urloub, ja an: Der Mensch möchte nicht das tun, wofür er bezahlt wird, weil das, wofür er bezahlt wird, oft nicht das ist, was er tun will oder wenigstens nicht so tun will, wie er es tun soll. Wenn er aber âfreiâ hat, will er dafür trotzdem von dem bezahlt werden, der ihn sonst für seine Unfreiheit bezahlt. Als Rentner wird man vom Staat nicht für Freiheit oder Unfreiheit bezahlt, sondern für seine bloÃe Existenz respektive dafür, dass man dem Staat ein Leben lang Steuern bezahlt hat, was dann doch wieder eine Form der Unfreiheit war. Der Sozialist, den es bald nicht mehr gibt, sang früher gerne: âBrüder, zur Sonne, zur Freiheitâ. Bezahlte es mir jemand, würde ich auf Insta singen: âSchwestern, zur Sonne, zum Urlaubâ. Nach dem Urloub also im Buchladen. Da lag ein Büchlein von Franz Müntefering mit dem Titel âNimm das Leben, wie es ist. Aber lass es nicht soâ. Man hatte es in Plastik eingeschlagen und mit dem Aufkleber âSPIEGEL-Bestseller Autorâ versehen. Dieser Aufkleber signalisiert dem empfindsamen Literaturfreund, dass man die Finger vom Inhalt der Plastikhülle lassen sollte, weil das Etikett ungefähr so aussagekräftig ist, wie wenn Bayer auf einen Sack Glyphosat â100 Prozent Bioâ klebt. Andererseits mochte ich Franz Müntefering in meinem früheren Leben fast. Jedenfalls hielt ich ihn für einen ehrlichen Politiker â wenn er mal unehrlich war, geschah dies immer aus Loyalität zur Sache â, der jene SPD verkörperte, die Oskar Lafontaine nicht verkörperte und die vielleicht heute noch eine Zukunft hätte, wenn die Soziodemografie und die gesellschaftliche Entwicklung ihr nicht jene Basis genommen hätte, auf der sich Saskia Esken oder Kevin Kühnert zu stehen wähnen. Man könnte die SPD einschweiÃen und sie mit dem Etikett âSPIEGEL-Bestseller Parteiâ versehen. Nein, ich bin im Urloub nicht reaktionär geworden. Dass ich heute in dieser Kolumne nicht über den prinzipienlosen Wiedergänger Söder, die narzisstische Sahra oder Friedrich, den Feldwebel der CDU-Blechdosenarmee, schreibe (zu schweigen von Alice aus dem blauen Lügenland), hängt nur daran, dass man sich auf eines konzentrieren soll. Das sagt auch Müntefering in seinem neuen, ziemlich aphoristischen Buch: âSchwafeln bleibt auch in kurzen Sätzen eine menschliche Gefahr.â Anders als Müntefering mag ich zwar lange Sätze. Ich glaube, dass das Schwafeln mehr eine Frage der Persönlichkeit als der Länge der Sätze ist. Müntefering war in seinem langen Leben, er ist Jahrgang 1940, fast alles, was man in der SPD werden kann. Er stammt aus jener Zeit, in der es noch eine Arbeiterklasse in Westdeutschland gab, die wegen ihrer Lage zwar nicht mehr ganz überwiegend SPD wählte, aber das dennoch in groÃer Zahl verlässlich tat. Auch als immer mehr Lehrer und andere zum irgendwie linken Funktionärstum Neigende allmählich die SPD übernahmen, war die Partei für viele der Alten (und auch der Neuen) so was wie Heimat. Franz Müntefering war lange Zeit der Hausmeister dieser Heimat. Heute würden nicht mehr viele sagen: Die SPD ist meine Heimat. Und bei manchen, die das dennoch sagen, hat man den Eindruck, die SPD ist ihnen eher Ferienwohnung oder politisches Airbnb. Ich habe Müntefering in den frühen Nullerjahren, als Schröders Rot-Grün regierte, mal beleidigt. Weil er als Generalsekretär rigoros gegen irgendwelche Abweichler vorging, benutzte ich in einem Kommentar das Wort âstalinistischâ. Das war dumm, nicht nur weil auch Sozialdemokraten seinerzeit stalinistisch verfolgt und umgebracht wurden. Aber als Bewohner der schon damals groÃen Berliner Bedeutungsblase machte man manchmal auch dummen Lärm, um aufzufallen. Das hat sich nicht geändert, sondern im Laufe der vergangenen zwanzig Jahre auch dank der digitalen Teufeleien noch verschlimmert. Müntefering jedenfalls schoss beim nächsten Treffen auf mich zu und machte mir in kurzen Sätzen sehr deutlich, dass und warum er meine Wortwahl für ungebührlich hielt. Ich verstand es schnell, und dass ich mich bis heute daran erinnere, zeigt auch, dass es, wenn man schon auffallen will, besser ist, vorher nachzudenken. Am besten ist es vielleicht, nicht auffallen zu wollen. Aber das ist in einer Zeit, in der Leute Bilder ihres Mittagessens veröffentlichen und alles Kommentierbare auch kommentieren, vermutlich ein Rat aus der Vergangenheit. Franz Müntefering ist auch ein Mann aus der Vergangenheit. Auch seine Weisheiten in seinem neuen Buch sind eher rückblickend in die Zukunft gerichtet. Macht nichts. Zukunft wird schlieÃlich jeden Tag Vergangenheit. | |
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| | | | | | | | | | âZu drei Vierteln wieder gut draufâ | | Der frühere SPD-Vorsitzende Franz Müntefering über das Ãlterwerden, seine langwierige Erholung von einer lebensbedrohlichen Erkrankung und seine Erfahrung, dass in Deutschland viel zu wenig gegen die wachsende Einsamkeit alter Menschen getan wird. | | | |
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