 |  | LITERATUR | |
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| Liebe Leserin, lieber Leser, |
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die Angst sei sein größter Feind, hat mir Boualem Sansal einmal gesagt, als ich ihn vor Jahren in Paris zum Gespräch traf. Dabei hat sich der algerische Schriftsteller, der so freundlich aussieht, seit jeher in beispielloser Unerschrockenheit mit allen angelegt: mit den Generälen, Schmugglern und Islamisten seiner Heimat ebenso wie mit ausländischen Investoren sowie Politikern Frankreichs oder der Vereinten Nationen, die im Ernstfall wegschauten. Seit seinem Debüt 1999 hat Sansal immer wieder den Finger in die Wunde Algeriens gelegt, dessen undurchsichtiges Geflecht aus Regierung, Geheimdienst und Militär von den Einheimischen nur „die Macht“ genannt wird.  | Sandra Kegel | Verantwortliche Redakteurin für das Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. | |
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| Weder Berufsverbot noch gesellschaftliche Ächtung oder die vielen Morddrohungen konnten ihn aus seiner Heimat Algerien vertreiben. Trotz der Gefahr emigrierte Sansal nicht wie viele seiner Schriftstellerkollegen, er blieb in Bourmerdès bei Algier. Für seinen Mut und seine schonungslose Offenheit wurde er unter anderem 2011 mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels geehrt. Und genau dafür wurde er jetzt von einem algerischen Gericht zu fünf Jahren Haft ohne Bewährung verurteilt.
Sansal wird vorgeworfen, die „territoriale Integrität Algeriens“ gefährdet zu haben, weil er in einem Interview die Zugehörigkeit des algerischen Westens zu Marokko bejaht hatte. Über dieses Gebiet wird zwischen den beiden Ländern seit Jahrzehnten gestritten. Vor Gericht hatte Sansal auf einen Pflichtverteidiger verzichtet und sich selbst verteidigt.
Weltweit wird das Urteil gegen den Schriftsteller kritisiert. Französische Politiker bis hin zu Emanuel Macron sowie der PEN-Verband und der Börsenverein des Deutschen Buchhandels fordern die Freilassung des Schriftstellers, der lediglich von seiner Meinungsfreiheit Gebrauch gemacht habe. Auf der Leipziger Buchmesse organisierte jetzt Sansals deutsche Verlegerin Katharina Eleonore Meyer vom Merlin Verlag eine viel besuchte Solidaritätsveranstaltung.
In Boualem Sansals Werken kann man den Zynismus der Macht studieren. Wie eine Schreckensherrschaft mit den Mitteln der Unterdrückung, der Bespitzelung und des Größenwahnsinns an der Spitze funktioniert, zeigt er ein ums andere Mal. In „2084 – Das Ende der Welt“ etwa zeichnet er das Bild einer religiösen Diktatur in Anlehnung an Orwells „1984“. Abistan heißt bei ihm das „Land der Gläubigen“, das aus den Trümmern des „Großen Heiligen Krieges“ hervorgegangen ist und dem allmächtigen Gott Yölah huldigt. Der Staatsapparat wacht mit unerbittlicher Härte über seine Bürger. Hier herrschen Männer, deren Grausamkeit keine Grenzen kennt. Wer die Gesetze missachtet, seine Nachbarn nicht bespitzelt oder öffentliche Hinrichtungen schwänzt, wird brutal bestraft.
Er habe nur noch sein Leben zu verlieren, sagte Sansal damals in Paris, als wir im Garten seines Pariser Verlags Gallimard saßen . Alles andere habe man ihm schon genommen. Seinen Posten als hoher Regierungsbeamter hatte der Autor bereits 2003 verloren. Dann wurden seine Bücher verboten. Dann zwang man seine Frau, ihren Beruf als Lehrerin aufzugeben. Dann wurde sein Bruder mit Steuerbescheiden so lange drangsaliert, bis er seine Firma schließen musste.
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Auf die Spitze trieb Sansal die Provokation mit seinem Roman „Das Dorf des Deutschen“, aus dem jetzt auch in Leipzig vorgelesen wurde. Darin thematisiert er die verdrängte Wahrheit über die Beteiligung von Nationalsozialisten am algerischen Unabhängigkeitskrieg. Auf realen Begebenheiten basierend, erzählt der Roman die Geschichte zweier algerischer Brüder, die nach dem Tod ihrer Eltern entdecken, dass ihr deutscher Vater, ein in Algerien verehrter Kriegsheld, einst Mitglied der Waffen-SS und an der Judenvernichtung beteiligt war. Bis heute wird die Schoa in Algerien totgeschwiegen. Dass Sansal sich als Schriftsteller aus der islamischen Welt zum Leid des jüdischen Volkes bekannte, hat ihm viele Feinde eingebracht.
Es war eine bewegende Geste, dass bei der Eröffnungsfeier der Leipziger Buchmesse im Gewandhaus ein Platz in Reihe 6 für Boualem Sansal frei gehalten worden war. Doch wenn uns das Werk des algerischen Schriftstellers eines gelehrt hat, dann, dass ein leerer Stuhl nicht reicht, um den Fünfundsiebzigjährigen aus den Kerkern des algerischen Regimes zu befreien.
Mit besten Grüßen
Ihre Sandra Kegel
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