Liebe/r Leser/in, sage bloß niemand, es sei alles grandios gelaufen. Die Nicht-Gedopten könnten sich über die Chinesen beschweren. Die nicht-männlichen Boxerinnen könnten auf die weniger nicht-männlichen Boxerinnen wütend sein. Die überlebenden Freiwasser-Schwimmer könnten die Seuchen-Seine verfluchen. Und wir deutschen Sofa-Sportler könnten beim Blick in den Medaillenspiegel in Dauertrauer verfallen. Wir könnten. Aber wir sollten es nicht. Wir sollten uns noch eine Weile der Freude und Begeisterung hingeben. Über die Spiele in Paris. Sage niemand, sie seien nicht grandios gewesen. Schon wahr, während der siebzehn olympischen Tage ist die Welt nicht besser geworden. Das Streiten hörte nicht auf, das Hassen nicht, und schon gar nicht das Kämpfen, Erniedrigen und Töten. Während ein paar Tausend Sportler und Sportlerinnen ihre Kraft, ihr Talent, ihr Können und ihre ganze Leidenschaft darauf richteten, eine Medaille zu erringen (oder ihr doch zumindest nahe zu kommen), konnte es für Abertausende überall auf der Welt nur darum gehen, den nächsten Sonnenaufgang zu erleben (oder sich diesen zumindest ein letztes Mal vorzustellen). Die Spiele haben nicht die Kraft, unser Dasein vom Leiden zu erlösen. Aber sie haben die Kraft, unser Dasein zu verzaubern. Sie lassen uns erfahren, was uns möglich ist. Dass wir uns miteinander messen können, ohne uns gegenseitig zu schaden. Dass Verlierer Sieger feiern können. Und dass Siegerinnen Verliererinnen ehren. Dass die Olympischen Spiele in der Antike eine heilige Feier darstellten, war absolut vernünftig – wie so vieles, was die Griechen sich ausdachten. Der Götter sind wir zwar verlustig gegangen. Eine Feier aber sind die Spiele noch immer. Der Mensch feiert seine Fähigkeiten. Als Einzelner und in der Gemeinschaft. Paris hat uns daran erinnert, dass alle an dieser Feier teilhaben. Dass gerade Frankreich, eine tief zerstrittene, vielleicht sogar gespaltene Nation, die einmütige Kraft aufgebracht hat, diese Feier derart mit Pracht, Leben, Eleganz und Lachen darzubieten, ist ein Wunder. Paris aber ist das Wunder im Wunder. Die Stadt war nicht Schauplatz der Feier. Die Stadt feierte sich selbst. Als magische, schöne und liebenswerte Stadt. Ein Ort, der sein Geheimnis zwar nicht verriet – aber die Menschheit dieses Geheimnis spüren ließ. Bedeutet das Ende der Spiele auch die Entzauberung von Paris? Ernest Hemingway ließ einst einen Freund wissen: „Wenn du das Glück hattest, als junger Mensch in Paris zu leben, dann trägst du die Stadt für den Rest deines Lebens in dir, wohin du auch gehen magst, denn Paris ist ein Fest fürs Leben.“ Für gut zwei Wochen lebten wir alle in Paris. |